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Filmkritik
Die Konsequenz liegt im wahrsten Sinne des Wortes offen da und ist ohne Alternative. Das Baby muss weg aus dieser Familie. Der Vater ist ein latent gewalttätiger Junkie, der jeden Moment auf die Mutter oder das Kind eindreschen könnte. Die Mutter scheint ihren ersten klaren Gedanken auch nicht sogleich auf ihr wenige Monate altes Baby zu verschwenden, wenn sie mal nicht bedröhnt und apathisch im Wohnzimmer herumsitzt. Als der Polizist Andreas den Jungen völlig verdreckt in uralten Windeln auf dem Boden liegen sieht, muss er an sich halten. Doch noch hat er keine Handhabe, dem Kind ein anderes, sicheres Zuhause zu besorgen. Das wird sich jedoch auf höchst dramatische Weise ändern. Andreas, glücklich mit Anna verheiratet und mit einem wohlgeratenen Baby gesegnet, verliert seinen eigenen Sohn. Der Verlust lässt den trauernden Vater zu einem unerhörten Mittel greifen: Er tauscht sein totes gegen das todgeweihte Baby der Junkie-Familie aus. Ein perfekter Plan zum Wohle aller. So scheint es zumindest. Susanne Bier und ihr Drehbuchautor Anders Thomas Jensen lassen Andreas’ Handeln durchaus nachvollziehbar erscheinen. Warum nicht einem armen Würmchen, das für seine Le-bensumstände nichts kann, eine rosigere Zukunft bescheren und ganz nebenbei die sich gerade von Trauer verdüsterte Zukunft einer Vorzeigefamilie gleichsam wieder aufhellen? Doch die Regisseurin hat in der vordergründig eindeutigen Geschichte selbstredend Fallstricke gespannt. Anna ist als Mutter nicht ganz so makellos, wie es zunächst den Anschein hat. Psychisch labil, bereitet sie ihrem Gatten schon länger Sorgen und reagiert öfters verwirrt und unberechenbar. Allerdings fragt man sich, ob dieser Twist dramaturgisch nur deshalb installiert wurde, um den Babytausch auf der Seite der Guten plausibel zu machen. In Frage steht auch, wer in diesem Universum eigentlich seine „zweite Chance“ bekommt? Ist es das Baby? Ist es die (un-)perfekte Kleinfamilie, die durch den Kindstod endgültig auseinanderzubrechen droht? Ist es gar Andreas’ Kollege und Partner Simon, der sich vom paralysierten Alkoholiker zum Zweifler wandelt und damit seinem Kollegen und Freund auf die Schliche kommen könnte? Oder ist es der Gutmensch Andreas selbst, der unredlich wird und Opfer seiner (unser aller?) oberflächlichen Wertvorstellungen zu werden droht? „Zweite Chance“ bietet viel Potenzial – und verschenkt es in dem Augenblick, in dem die Ambivalenz einer übertriebenen Schwarz-Weiß-Malerei geopfert wird. Anna kommt beispielsweise zunächst als Traumehefrau daher, deren wunderschöne Fassade aber allzu hastig bröckeln muss, um als Wahnsinnige zum Abziehbild zu verkommen. Da ist das Junkie-Ehepaar, das als Monster-Eltern eingeführt wird, (allzu spät) aber zum Opfer avanciert. Vor allem aber ist da der sympathische Andreas, dessen dunkle Seite als Gesetzesbrecher nie Oberhand gewinnen darf, weil die Konventionen eines Hollywood-kompatiblen Dramas kein tragisches Ende erlauben. In „Zweite Chance“ schlummert das Potenzial eines meisterlichen Kriminaldramas über den Irrglauben eindeutiger Wahrheiten. Hätten die Macher in ihrem Abgesang nur den Mut zu mehr Ambivalenzen gehabt. Doch dem Film steht eher der Sinn nach Versöhnung - und das macht ihn am Ende ziemlich unglaubwürdig. Dennoch ist „Zweite Chance“ ein bemerkenswerter Film, in dem vor allem die nicht gerade sympathischen Charaktere vorzüglich und mit unbändigem Mut zur Hässlichkeit interpretiert werden. Die auf allen Ebenen formale Virtuosität des Films lässt die inhaltliche Inkonsequenz ein Stück weit verschmerzen.