Vorstellungen
Filmkritik
Ben muss Abschied nehmen. Von seinem Zimmer, seinem Zuhause, seinem Fußballverein. Der besten Eisdiele der Welt. Und von seinem Dorf Niederkirchbach, wo er und seine ältere Schwester Isa groß geworden sind. Der Ort wird abgerissen, weil sich der nahegelegene Braunkohletagebau jetzt auch in sein Dorf frisst. Ben und seine Familie ziehen allerdings nicht wie die meisten anderen nach Neu-Niederkirchbach, sondern in die nächste Stadt, nach Düren. Dort merkt Ben schnell, dass es gar nicht so einfach ist, in einer neuen Umgebung Fuß zu fassen.
In seiner Klasse ist er auf einmal das „Landei“; und im Fußballverein wird er, der in der vergangenen Saison als Stürmer ein Tor nach dem anderen geschossen hat, in die Abwehr oder, noch schlimmer, auf die Reservebank verbannt. Als er erfährt, dass sein alter Klub mittlerweile sogar einen Ersatz für ihn gefunden hat, wird ihm klar: Er ist endgültig „zu weit weg“. Aus den Augen, aus den Sinn.
„Das ist Tariq. Er kommt aus Syrien“
Alle scheinen gegen ihn zu sein. Deshalb ist er auch wenig begeistert, als er in der Schule einen neuen Sitznachbarn bekommt. „Das ist Tariq. Er kommt aus Syrien, Aleppo. Ihr wisst ja, was das heißt“, stellt ihn die Lehrerin vor. Tariq ist ein schweigsamer Junge. Während der Feueralarm-Übung verkriecht er sich zitternd neben einem Spind, kennt er doch den Klang von Sirenen. Davon ahnt Ben zunächst noch nichts, sieht er in Tariq zunächst doch nur den Konkurrenten, der beim Kicken ein paar „super gute Moves“ draufhat und gleich beim ersten Training ins Tor trifft.
Dass die beiden auf den ersten Blick so unterschiedlichen Jungen mehr eint als trennt, liegt in einem Kinderfilm auf der Hand. Sie freunden sich an, und ganz langsam öffnet sich Tariq. Seine Eltern harren in der Türkei in einem Flüchtlingslager aus, seinen älteren Bruder Kheder hat er auf der Flucht aus den Augen verloren. Nun ist er allein in einem Jugendheim untergebracht und vermisst vor allem den Bruder.
Über Tariq lernt Ben eine ihm gänzlich unbekannte Welt kennen, erfährt aus erster Hand von einem Schicksal, über das sonst nur die Medien berichten. Weil Tariq sein Freund ist, will Ben ihm helfen. In der Schule regt er im Medienkundeunterricht ein „Projekt“ an, mit dem Tariqs verschollener Bruder gefunden werden soll.
Die Zufahrt ist versperrt
Eine so schöne wie mutige Idee liefert das Grundgerüst von „Zu weit weg“: Ein in Deutschland geborener Junge erlebt, was es heißt, wenn man sein Zuhause und seine angestammte Heimat verliert. Immer wieder zieht es Ben zurück in sein altes Dorf, dessen Zufahrt nun versperrt ist. Er zieht durch leere Straßen, vorbei an verriegelten Häusern und dem verwaisten Fußballplatz. Er teilt gewissermaßen das Schicksal seines Freundes, auch wenn Tariq nicht vor riesigen Baggern, sondern vor Bomben, Zerstörung und Tod geflohen ist und nicht in seine Heimatstadt zurückkann.
Die Annäherung der beiden Jungen, die füreinander da zu sein und sich zu vertrauen lernen, gehört zu den stärksten Momenten des Debütfilms von Regisseurin Sarah Winkenstette. Als Zuschauerin ist man ganz bei den beiden Jungen, die füreinander ein aufrichtiges Interesse entwickeln. Zwei Kinder, die sich kennenlernen, die beim nächtlichen Lagerfeuer ihre Angst wegsingen, sich beim Fußball gegenseitig Tricks zeigen oder etwas anvertrauen, was sonst niemand weiß.
Freundschaft als Brücke
Zu Beginn scheint der Film seinem jungen Zielpublikum aber nicht allzu viel zuzutrauen und winkt mit dem Zaunpfahl. Bens neue Klasse besteht aus lauter gehässigen Kindern, damit auch jeder merkt, wie schwer er es in seiner neuen Umgebung hat. Die augenrollenden Lehrerinnen wirken wie am Rande des Nervenzusammenbruchs. Dialoge bestehen häufig aus Merksätzen, die etwas über Syrien oder die Situation von Flüchtlingen vermitteln. Recht deutlich wird, dass man mit „Zu weit weg“ unbedingt auch etwas lernen soll.
Glücklicherweise verlagert sich das Augenmerk der Inszenierung dann aber zunehmend auf die Freundschaft der beiden Jungen, in deren Rahmen sich auch andere Figuren weiterentwickeln können. Vor allem Ben gewinnt glaubhaft an emotionaler Tiefe. Am Ende ist der Junge, der sein Dorf verlassen musste, in Düren heimisch geworden. Der andere, der vor Bomben fliehen musste, ist zwar nicht mehr allein, aber ob er fernab von Aleppo eine Heimat gefunden hat, scheint nicht mehr ganz so wichtig zu sein.