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Filmkritik
Paul (Banks Repeta) und Johnny (Jaylin Webb) werden nach vorne zitiert. Im Rücken des Lehrers müssen sie den Rest des Unterrichts absitzen. Einer hat den Lehrer auf Papier karikiert, der andere seinen Namen verballhornt. Johnny sitzt die Strafe stoisch ab, er kennt die Routine und nimmt den Rest gelangweilt hin. Paul hingegen möchte die Grenzen etwas mehr ausloten und macht weiter Faxen, bis sein Publikum ihm schließlich das Lachen schenkt, für das nicht er, sondern Johnny bestraft wird. Nicht er, der jüdische Junge aus dem in der Schule allgegenwärtigen Upper-Class-Milieu, wird als Täter behandelt, sondern sein Freund, der schwarze Junge aus ärmlichen Verhältnissen.
Rassismus versus Privileg
Es ist der Moment, der den Beginn der Freundschaft zwischen den beiden Jungs markiert und zugleich raunend in den Raum stellt, wie sie enden wird. Ein für das Publikum unübersehbar politischer Moment. Tatsächlich aber ist die Eindeutigkeit, mit der hier Rassismus und Privileg gegenüberstellt werden, keine Zusammenfassung einer politischen Agenda, die der Film verfolgt, sondern vielmehr der erste Hinweis darauf, wie weit die erwachsene, gesellschaftlich geschulte Wahrnehmung und die kindliche Wahrnehmung auseinanderklaffen.
Denn der 12-jährige Paul, eine autobiografisches Stand-In von Regisseur James Gray, versteht nicht, was wir als unmissverständlich wahrnehmen: Johnny ist nicht deshalb die Zielscheibe der Autoritätspersonen, weil er Mist gebaut hat; er ist und bleibt es, weil er schwarz ist.
„Zeiten des Umbruchs“ ist kein Film über Johnny. Seine Perspektive und seine Lebensrealität finden nur dort statt, wo sie auf die von Paul treffen: im Klassenraum, mit dem Joint in der Hand auf der Schultoilette, beim gemeinsamen Ausbüxen nach Downtown New York und schließlich, wie es sich im Klassenraum schon andeutete, getrennt durch einen Maschendrahtzaun. „Zeiten des Umbruchs“ ist ein Film über Paul, seine Begegnung mit den Strukturen, die Menschen nach Hautfarbe, Religion und Klasse sortieren, und seine kindlichen Versuche, sich dieser Strukturen zu erwehren.
Diese Strukturen, die jeder Erwachsene als Teil des gesellschaftlichen Lebens verinnerlicht hat, sind aus Pauls Perspektive etwas Unbegreifliches, das fortan sein kindliches Dasein formt. Die darin verborgene Tragik ist nicht, dass der 12-Jährige die Welt nicht verstünde, sondern, dass die Welt plötzlich keinen Platz mehr für seine Unschuld, sein Kindsein und seine Naivität hat. Johnny einfach als Freund zu begegnen, die einfachste und selbstverständlichste Form der Interaktion, erscheint nur wenige Wochen später kompliziert, wenn nicht gar unmöglich.
Beobachtungen von Familienverhältnissen
Die Filme von James Gray sind über alle Genres hinweg Beobachtungen über Familienverhältnisse. Der autobiografische New-York-Touch, der die frühen Filme „Little Odessa“ (1994) und „The Yards“ (2000) prägte, wird mit „Zeiten des Umbruchs“ endgültig zum autobiografischen Film. Die Familie ist weiterhin der Kern und der Ort, an dem Gesellschaftsstrukturen verhandelt und verkompliziert werden. Mutter Esther (Anne Hathaway) und Vater Irving (Jeremy Strong) kennen als Kinder jüdischer Einwanderer den Antisemitismus aus der Genozid-Erfahrung ihrer Eltern, aber auch aus eigener Diskriminierungserfahrung. Aber sie kennen eben auch das Privileg des US-amerikanischen Mittelstandslebens, das es ihnen ermöglicht, ihre Kinder auf eine Privatschule zu schicken. Tatsächlich ist der private Bildungsweg auch die „Lösung“, die die Eltern für Pauls zunehmende Probleme in der Schule vorsehen. Erwachsen werden muss der Junge an einer Elite-Bildungsanstalt.
Dass die Lehre dieser Bildungsanstalt – Immobilienmagnat Fred Trump und seine Tochter Maryanne (John Diehl, Jessica Chastain) werden es in Reden vor Schülerinnen, Schülern und dem Kollegium bekräftigen – eben das forciert, was die Eltern vor dem heimischen Fernseher lautstark verdammen, ist eine der bizarren Dualitäten, die ihre Stellung innerhalb der US-Gesellschaft für sie und zukünftig auch für Paul bereithält. Dort erleben sie mit zunehmender Bestürzung erleben, wie Ronald Reagan zum 40. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wird. Nicht „Du kannst alles werden“, sondern „Du musst etwas werden“ ist die Maxime.
Natürlich ist der Begriff von diesem „etwas“ hier familienhistorisch vorbelastet. Als Teil der jüdischen Diaspora sind die Großeltern wie die Eltern um Stabilität und Unabhängigkeit bemüht und zugleich in Sorge über die antisemitische Gewalt, die weder als Trauma noch als Bedrohung eine längst vergessene Geschichte ist, sondern die als immer greifbare Bedrohung Teil des Lebens der jüdischen Familie bleibt. Eben jener Familie, deren älteste Mitglieder sich nicht zu schade sind, über „die Schwarzen“ in jener öffentlichen Schule zu echauffieren, die Paul und Johnny zunächst gemeinsam besuchen.
Sei ein „Mensch“!
Eine Sonderstellung innerhalb der komplexen Charaktere, die mit ihrer komplizierten Stellung innerhalb der Gesellschaft ringen, nimmt der von Anthony Hopkins verkörperte Großvater ein. Der weltgewandte, humorvolle und gütige alte Mann ist der Patriarch, an den sich Paul ebenso wie der Rest der Familie klammert. Er ist der Mann, der sich Paul zuwendet, mit viel Liebe seine künstlerischen Ambitionen fördert und ihn ermahnt, ein „Mensch“ zu sein, jemand, der für seine Ideale ebenso einsteht wie für andere.
Wie genau das funktionieren soll, formuliert „Zeiten des Umbruchs“ nicht über Momente, die an zeitgenössische Diskurse anknüpfen. Obschon Pauls Begegnung mit Fred Trump ein direktes Portal in die Gegenwart zu öffnen scheint, bleibt die Reagan-Ära ein dunkles Raunen jeder Zukunft, deren Deutung und Bewertung Gray auf das Publikum auslagert.
„Zeiten des Umbruchs“ ist ein Film über Kindheitserfahrungen, über die Momente, in denen große soziale Verwerfungen konkret werden und ein Leben prägen. Ein Film über jene Momente, in denen das eigene Handeln innerhalb der Historie bedeutungslos wird. Pauls Versuche, sich eines Systems zu erwehren, dessen Mechanismen und Machtdynamiken er unmöglich verstehen kann, sind in ihrer naiven Aufrichtigkeit auf tragische Weise unbedeutend.
Kandinsky & die Superhelden
Paul scheitert. Nicht nur innerhalb der für ihn, aber nicht von ihm gewählten Strukturen, sondern auch in den Momenten, in denen er für Johnny einstehen müsste. Ein Versagen, für das er, trotz aller Konsequenzen, ermutigt und getröstet wird. Die kleinkriminellen Entgleisungen wiegen schwer; sie bringen Paul all den Ärger ein, den sich ein Kind der 1980er-Jahren von seinen Eltern einhandeln kann; Johnny aber brocken sie all den Ärger ein, den sich ein schwarzer Mann in den 1980er-Jahren mit dem Gesetz einhandeln kann.
Für Johnny ist dieser Moment weder überraschend noch eine Abweichung von dem Verlauf, den die Gesellschaft seinem Leben vorherbestimmt zu haben scheint. Für Paul ist es das Ende der Unbekümmertheit, die zuvor als prägende Kraft durch den Film geisterte, sich Kandinskys abstrakte Malerei im Guggenheim-Museum zum Superhelden-Porträt zurechtrückte und noch dort die Ekstase suchte, wo die Verwerfungen schon deutlich sichtbar waren.
Beim Start seiner Spielzeugrakete führt Paul, beobachtet vom kranken Großvater und überschattet vom New Yorker State Pavillon, einen Freudentanz auf, der nicht an die Zukunft denkt, die wir bereits gesehen haben. Als sie ihm schließlich begegnet, wendet er sich ab – ohne sie oder seinen Freund Johnny hinter sich lassen zu können.