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Filmkritik
Den meisten Fußballfans wird ihr Lieblingsverein durch Heimat oder familiäre Prägung gewissermaßen „in die Wiege gelegt“. Der zehnjährige Jason versteht allerdings schon das Sprichwort mit der Wiege nicht. Denn er nimmt es wörtlich – wie alles im Leben. Jason ist ein Asperger-Autist. Zwischentöne, Metaphern oder Ironie erschließen sich ihm nicht; und emotionale Signale kann er nicht deuten.
Auch seinen Lieblingsverein kann er nicht einfach „aus dem Bauch heraus“ wählen; er muss ihn sich nach einem strengen Kriterienkatalog aussuchen. Dazu gehören Fragen wie die, ob die Schuhe auf dem Platz bunt sind, ob es ein albernes Maskottchen und umklappbare Flutlichtmasten gibt, und ob „Nazis“ zu den Fans zählen. Aber auch, wie es im Stadion um Umweltschutz und behindertengerechte Toiletten bestellt ist.
(Fast) aus dem wahren Leben
Jason ist eine reale Person und mittlerweile volljährig. 2017 erschien das von ihm und seinem Vater Mirco geschriebene Buch „Wir Wochenendrebellen“, nach dessen Vorlage Richard Kropf das Drehbuch zum (fast) gleichnamigen Film geschrieben hat. Darin geht es um das gemeinsame Projekt, einen Lieblingsfußballverein für Jason zu finden. Von dieser Suche, die auch und vor allem eine wechselseitige Annäherung ist, handelt der Film. Wochenende für Wochenende reisen Vater und Sohn quer durch Deutschland, um jeden einzelnen Verein aus der ersten, zweiten und dritten Liga live spielen zu sehen. Immer mit der Bahn, denn Jason ist sehr umweltbewusst; in den Worten seines Vaters: ein kleiner „Öko-Diktator“.
Öffentliche Verkehrsmittel und Fußballstadien sind für einen Autisten wie Jason aber echte Herausforderungen, da sie voller Reize und Menschen sind, wo es eng zugeht und man mit vielen in Körperkontakt kommt. Also unübersichtlich und regellos, laut und in ständiger Veränderung begriffen. Alles Gift für Menschen, die Ruhe, Ordnung, Struktur und Regelmäßigkeit brauchen.
Doch Jason will es so; er sucht die Herausforderung. Das Projekt ist Teil einer Abmachung zwischen ihm und seinen Eltern. Mirco verspricht, so lange mit Jason durch die Gegend zu reisen, bis ein Lieblingsverein gefunden ist, und Jason gelobt, sich in der Schule weniger provozieren zu lassen. Denn wegen immer neuer „Ausraster“ droht ihm der Wechsel auf die Förderschule, was für den sozial eingeschränkten, aber hochintelligenten Jason einer Katastrophe gleichkäme.
Wer sitzt da auf meinem Platz?
Wie schwer dem Jungen die Bewältigung des Alltags fällt, vermittelt der Film von Regisseur Marc Rothemund eindrücklich auf Bild- wie Tonspur. Wenn Jason durch einen Gang in der Schule geht, nimmt er das, was andere als Hintergrundrauschen automatisch ausblenden, genauso intensiv wahr wie die Geräusche im Vordergrund. Autisten, so lernt man in „Wochenendrebellen“, können nur schwer filtern; sie reagieren stark auf Reize, bestehen auf Logik und sind auf vertraute Strukturen und Gewohnheiten angewiesen. Alles also Anforderungen, mit denen sie im Alltag und in der Umwelt ständig kollidieren. Jason reagiert mit Bockigkeit, Wut und Geschrei bis hin zu körperlicher Gewalt, wenn es nicht so läuft, wie es nach seinem Gehirn ablaufen sollte. Und zwar auch bei Aspekten, die für andere Menschen vollkommen nebensächlich sind – beispielsweise der Tatsache, dass jemand auf seinem Stammplatz im Bushäuschen sitzt.
Sinnlich nachvollziehbar werden auch der Stress und die Beklemmung, die Jason – und mit ihm sein Vater als Aufpasser und Blitzableiter – befallen, als sie sich zum ersten Mal in die Menschenmasse eines Fußballstadions begeben, dicht gedrängt vor den Sicherheitsschleusen, das gefürchtete Abtasten durch die Security noch vor sich. Wie angespannt Jason in solchen Situationen ist und wie viel Beherrschung der Vater aufbringen muss, um dies aufzufangen und eine „Schutzblase“ um seinen Sohn zu errichten, vermögen das feinfühlige Drehbuch und die geschickte Regie souverän zu transportieren.
Eine schwierige Balance
Dass „Wochenendrebellen“ so gut funktioniert und fesselnd-anrührend unterhält, ohne sich in die einfachen Lösungen eines „Feel-Good-Movies“ zu flüchten oder das kräftezehrende Zusammenleben mit einem Autisten zu verharmlosen, liegt auch an den Darstellern, allen voran an Cecilio Andresen als Jason. Der 2011 geborene Schauspieler beeindruckt nachhaltig. Ihm gelingt die schwierige Balance zwischen der Darstellung eines oft nicht unbedingt sympathischen Jungen, der von seinem Vater zu hören bekommt, dass alles einfacher sei, als bei ihm zu sein, und einem Jungen, der mit seiner Originalität und Begeisterungsfähigkeit tief berührt und der an der ständigen Diskrepanz zwischen innerer Ordnung und äußerem Chaos offensichtlich sehr leidet.
Auch Florian David Fitz überzeugt in der Rolle des Vaters, auch wenn er nicht ganz auf die Fitz’schen Manierismen verzichten mag – etwa den niedlich-überforderten Blick, den er schon vor 15 Jahren als Marc Meier in der Fernsehserie „Doctor’s Diary“ perfektionierte. Als Mirco kann er dennoch viele Facetten zeigen, mehr als Aylin Tezel in der etwas simplen Rolle von Jasons Mutter Fatime. Dazu kommen Joachim Król, Leslie Malton oder Johannes Allmayer in Nebenrollen.
FC-Running-Gag-Bayern-München
Manche dramaturgische Ungereimtheit verwundert zwar – wieso besucht Jason nicht einfach den Ethikunterricht, wenn er sich ständig mit der Religionslehrerin zofft, die er als „Verschwörungstheoretikerin“ beschimpft? –, schmälert aber nicht die Qualitäten des konventionell inszenierten, aber keineswegs oberflächlichen Films.
„Wochenendrebellen“ bringt das Thema Autismus auf sehr lebendige und unterhaltsame Weise nahe, fast ohne Sentimentalitäten und ganz ohne erhobenen Zeigefinger. Dass der Running Gag um den FC Bayern als ewigem Erfolgsverein nach der durchwachsenen Saison 2022/2023 gerade nicht mehr ganz so passt, kann man den Machern nicht ernsthaft vorwerfen.