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Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
Einmal fährt die Hauptfigur, ein älterer Mann namens Aydin, als Beifahrer in einem Auto über das Hochland Zentralanatoliens. Plötzlich gibt es einen Schlag; die Scheibe seiner Tür zersplittert; Sekunden später hat er und das Publikum mit ihm realisiert, dass dies kein Zufall, sondern der Steinwurf eines kleinen Jungen war. Der Blick des Knaben, fragend und vorwurfsvoll, bleibt nicht weniger haften als die Fassungslosigkeit in Aydins Augen. Später sieht man eine Gruppe von wilden Pferden. Sie galoppieren über die Steppe, frei und ungebunden. Eines von ihnen wird eingefangen und mit einem Seil um den Hals gefesselt, immer enger, bis es elend röchelt, scheinbar fast erstickt. Ein mühevoller, auch für den Zuschauer äußerst schmerzhafter Augenblick, eine großartige, selten zu sehende (Kino-)Szene – und zugleich ein Sinnbild für die Zwänge, denen die Natur in der Zivilisation unterworfen wird. Auch hier sieht man wieder Aydins durch Erschrecken wie Erstaunen geweitete Augen, in deren Fassungslosigkeit sich ein Element von Selbsterkenntnis abzuzeichnen scheint. „Winterschlaf“ ist ein Film der Blicke, aber auch ein Film der Worte und ein Film der Welt, mit der Blicke und Worte mühsam ein Verhältnis einzugehen versuchen. Es geht um Selbsterkenntnis, um die Grenzen zwischen Generationen, Klassen, Geschlechtern. Das stille, bildgewaltige Drama spielt in der großartigen Naturkulisse des Hochlands von Kappadokien, dem abgelegenen Teil Zentralanatoliens. Aydin ist ein alternder Theaterschauspieler, der sich vor einiger Zeit in seinem Elternhaus zur Ruhe gesetzt hat. Dort betreibt er ein Hotel, dirigiert mit Hilfe eines Verwalters das Personal und die von ihm als Grundbesitzer abhängigen Bewohner der Gegend und lebt mit seiner Schwester und seiner deutlich jüngeren Frau Nihal zusammen. Um diese drei und eine Handvoll weiterer Charaktere entspinnt sich ein dichtes Beziehungsgeflecht, ein Mikrokosmos, der durchaus als Metapher auf die gesellschaftliche Situation der Türkei verstanden werden kann: Es gibt einen Hodscha und einen Lehrer, Proletarier und Kleinbürger. Aydin, der zuletzt als Schauspieler offenbar nicht mehr an frühere Erfolg anknüpfen konnte, schreibt in der Provinzzeitung eine Kolumne, die beispielsweise um die Frage kreist, wie „zivilisiert“ der Islam ist. Aydin steht für die wohlhabende, gebildete, kunstinteressierte und modern ausgerichtete kemalistische Elite und ihre jüngsten Desillusionierungsprozesse, den Verlust der kulturellen und politischen Hegemonie. Die Handlung wechselt zwischen Szenen, die Aydin mit seiner Umgebung konfrontieren, und langen Passagen, die Gespräche zwischen Aydin mit der Schwester und seiner Frau zeigen. Immer wieder münden diese Gespräche in ernste moralische Debatten. Es geht darin nicht allein um Fragen wie die, wie man „dem Bösen widerstehen“ könne, oder um den Charakter von Kunst: „Das Thema wählt dich, nicht umgekehrt“, erklärt Aydin. Er ist nicht nur der Sympathieträger des Films, sondern am ehesten auch die Stimme des Regisseurs Nuri Bilge Ceylan, indem er der Bevölkerung des türkischen Hinterlandes seiner Borniertheit vorhält, den fehlenden Sinn für Schönheit und eine übertriebene, zur Bigotterie gesteigerte Religiosität. Es wäre allerdings zu einfach, diesen Charakter nur als „gescheiterten Künstler“ abzutun, ihm seine Selbstgerechtigkeit vorzuwerfen, das Macho-Gehabe oder die Arroganz, patriarchalische Posen und Besserwisserei, aber auch seine Schwäche oder den Unwillen, die unangenehmen Aufgaben seines Lebens zu übernehmen. Seine um vieles jüngere Gattin Nihal ist ihm gegenüber eine nahezu ebenbürtige zweite Figur. Man kann ihre Gespräche als eine mildere Variante von Ingmars Bergmans „Szenen einer Ehe“ (fd 19 216) verstehen. Beiden Ehepartnern fällt es schwer, empathisch die Sicht des je Anderen einzunehmen, beide verstricken sich immer wieder in egozentrische Befindlichkeiten. Analog zu Aydins längst erschüttertem patriarchalen Selbstverständnis leidet Nihal unter Schuldkomplexen gegenüber der armen Landbevölkerung, die von ihrem Gatten abhängig ist. Sein Verhalten empfindet sie als „herzlos“. So ist „Winterschlaf“ zugleich auch ein psychologisch triftiges, universales Drama, über die grundlegende Frage, wie Menschen mit dem Altern und der Sterblichkeit umgehen, mit den Mitmenschen, dem Überdruss und der Sehnsucht, und auch darüber, worauf es im Leben am Ende wirklich ankommt. Die über drei Stunden des Films sind nie langweilig, ganz im Gegenteil; sie stehen unter immenser Spannung und entfalten einen eigenwilligen Fluss. Filmsprachlich ist alles sehr kontrolliert, doch bei aller Kontrolle gibt es immer wieder einen Überschuss, Momente des Sich-gehen-lassens. Trotzdem schöpft Ceylan längst nicht alle Möglichkeiten des Kinos aus. „Winterschlaf“ riskiert wenig; deutlich zu spüren ist das Bestreben, ohne Fehler und auf der sicheren Seite zu bleiben. Für einen Bilderfilmer wie Nuri Bilge Ceylan ist es überdies ein erstaunlich gesprächiger Film, der stellenweise zum schwer dialoglastigen Kammerspiel mutiert. Doch so, wie man das niemals einem Stück von Tschechow vorwerfen würde, ging ein solcher Vorbehalt auch an Ceylan vorbei, der unschwer erkennbar Tschechows Vorbild nacheifert. Denn tatsächlich erinnert die melancholische Grundstimmung des Films, verbunden mit sanfter, menschenfreundlicher Ironie, an den russischen Autor.