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Filmkritik
Die West Side ist eine große Baustelle, und auch die „Jet“-Gang marschiert zur Viertelverschönerung auf. Die Stadt New York reißt in den 1950er-Jahren großflächig die Slums in Manhattan ein, um attraktive Wohnhäuser zu errichten; mit dem Abtransport des Bauschutts hat man es hingegen nicht eilig. Die Jugendbande kümmert die Absperrungen aber nicht, und auch die Zerstörung ringsum scheint sie nicht zu beeindrucken, wenn sie mit Farbeimern aufbricht und unterwegs noch die passenden Pinsel klaut.
Was sie stört, ist die Wand eines Sportplatzes, auf der ein Bild der Flagge von Puerto Rico prangt. Dafür lassen sie sogar ihr demonstratives Nichtstun für einmal sein. Doch als die „Jets“ darangehen, die Wand wild zu bespritzen und zu übermalen, ruft das junge Männer aus der spanischsprachigen Nachbarschaft auf den Plan. Farbkübel und Fäuste fliegen hin und her, der Kampf weitet sich auf weitere Abrissgrundstücke aus, und etliche Kombattanten sind schon deutlich gezeichnet, als die Polizei vorerst für ein Ende sorgt. Doch es verbietet sich für alle Beteiligten, die Gesetzeshüter einzubeziehen, obwohl die Worte von Lieutenant Schrank zwar aggressiv, aber zutreffend sind: Wozu noch um ein Terrain streiten, das in Kürze ohnehin verschwunden und dessen Bewohner umgesiedelt sein werden?
Das New York der 1950er-Jahre
64 Jahre nach der Broadway-Premiere und 60 Jahre nach der ersten Verfilmung bekommt auch das Musical „West Side Story“ einen neuen Anstrich. Das Drehbuch von Tony Kushner siedelt die Neuverfilmung konkreter in der Entstehungszeit an als Bühnen- und Filmvorlage, die mit den Jugendgangs ein seinerzeit brandaktuelles Thema aufgriffen, das beim Publikum als bekannt vorausgesetzt werden konnte.
Im Falle des Regisseurs Steven Spielberg, der mit „West Side Story“ seinen ersten Musicalfilm drehte, kommen zudem nostalgische Kindheitserinnerungen an die erste Begegnung mit dem Werk in den 1950er-Jahren hinzu. Das mag der Grund dafür sein, das New York jener Zeit als annähernd realistisches Setting wiederauferstehen zu lassen und nicht auf eine Mischung aus Originalschauplätzen und artifiziellen Bauten zu setzen wie der Film von Robert Wise und Jerome Robbins. Es ist echter Baustellenlärm, der in die Musiknummern eindringt; der omnipräsente Staub muss des Öfteren von Kleidung und Schuhen geklopft werden, und die harten Auseinandersetzungen sind keine Ballettgefechte, sondern hinterlassen blutige Schrammen in den Gesichtern der Kämpfenden.
Tony und Maria, mitten im Bandenkrieg
Doch einiges bleibt unangetastet: Die Musik von Leonard Bernstein mit den Texten von Stephen Sondheim, prächtig eingespielt von den New Yorker Philharmonikern. Und auch die bewusst abstrahierte, damals bahnbrechende Präsentation der Handlung mit ihren tanzenden Halbstarken ist intakt, inklusive der „Romeo und Julia“-Anleihen um das zentrale Paar Tony und Maria, die den „Jets“ respektive den puerto-ricanischen „Sharks“ nahestehen und daher in den Bandenkrieg geraten.
Der rassistische Aspekt der Auseinandersetzung tritt nun stärker hervor, etwa wenn der Polizist Schrank seine Verachtung für die Latino-Gruppe offen zeigt und eine „Überschwemmung“ von Tausenden weiterer Migranten prophezeit. Die „Jets“ um ihren aggressiven Anführer Riff sind sowieso nicht zimperlich, wenn sie sich selbst als die „wahren“ Amerikaner bezeichnen und die Zuwanderer wie Dreck behandeln. Eine Verblendung, die sich selbst entlarvt, wenn die jungen Rüpel mit der alten Ladenbesitzerin Valentina zu tun haben. Die stammt zwar auch aus Puerto Rico, hat aber vor langem einen New Yorker geheiratet und ist damit für die „Jets“ akzeptabel, auch wenn sie inzwischen verwitwet ist.
Als agile Valentina, die beim Ausbruch der Gewalt aber in resignierte Traurigkeit verfällt, als habe sie Hass und Feindschaft nun wirklich schon zu oft in ihrem Leben miterlebt, wird die 90-jährige Rita Moreno zur eindrucksvollsten Figur des neuen Films, ganz ähnlich wie es ihr schon im „West Side Story“-Original in der Rolle von Marias Freundin Anita gelungen war. Auch die neue Anita, Ariana DeBose, erweist sich als ausgezeichnete Wahl für die selbstbewusst-kesse Frau, die dann durch den Tod ihres Freundes, des „Sharks“-Anführers Bernardo, in Verzweiflung stürzt und in der beklemmendsten Szene des Musicals fast zum Vergewaltigungsopfer der „Jets“ wird.
Ein ähnlicher Casting-Glücksfall ist die Filmdebütantin Rachel Zegler als Maria, während die wichtigsten männlichen Darsteller um einiges blässer wirken. Zwar singen hier – im Gegensatz zur Erstverfilmung – alle mit ihren eigenen Stimmen und sind auch tänzerisch versiert, doch hinter dem Charisma der Filmoriginale von Tony, Riff und Bernardo bleiben die neuen Darsteller um einiges zurück. Ganz anders als bei einer Figur wie dem Trans-Jungen Anyways, zu der einem Film heute naturgemäß wesentlich mehr einfällt.
Der passende Abstand
Es wäre albern, Spielbergs Neuverfilmung nur an Wises und Robbins’ Film zu messen. Gleichwohl führt an einem Vergleich nichts vorbei, angesichts eines Originals, in dem viele Sequenzen ikonischen Status genießen. Dem Dilemma, mit womöglich unübertreffbaren Vorbildern zu konkurrieren, entkommt auch Spielberg nicht. So bleibt etwa das Feuertreppen-Liebesgeturtel sehr eng an der 1961er-Version – was es aber nicht weniger ergreifend macht. Auch fällt die Zusammenarbeit von Spielberg und dem Choreografen Justin Peck zwiespältig aus; manche Szene kann ohne weiteres neben den Einfällen von Jerome Robbins bestehen, diese in einigen Fällen sogar überragen; andere dagegen tendieren in Richtung Verlegenheitslösung.
Über alle Zweifel erhaben ist allerdings die abgeklärte Meisterschaft des Regisseurs, mit der er selbst in den aktionsreichsten Momenten stets die effektivste Kamerabewegung und -einstellung findet: Nie ist eine inbrünstige Gesangsdarbietung zu nah an die Kamera gerückt, stets wird der passende Abstand eingehalten.
Die zweite filmische Erzählung der „West Side Story“ mag am Gewicht des Originals schwer tragen, doch als formal elegantes, in vielen Details ausgezeichnetes Qualitätskino verdient sie dennoch Sympathie und Respekt.