- RegieMarc Bauder
- ProduktionsländerDeutschland
- Dauer115 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
- TMDb Rating6/10 (5) Stimmen
Vorstellungen
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Filmkritik
In den letzten Jahrzehnten war immer wieder die Rede von einer Wissens- oder Informationsgesellschaft, die an das Zeitalter der Industrialisierung anschließe. Hochentwickelte Länder sollten die Organisation von Wissen zur Grundlage des Zusammenlebens machen und dies als Ressource begreifen. Bei seinem letzten öffentlichen Auftritt im Jahr 2015 stellte der Schriftsteller Roger Willemsen hingegen dieses Konzept radikal in Frage. In seiner „Zukunftsrede“ blickte er aus der fiktiven Perspektive einer kommenden Zeit zurück auf die Gegenwart und kritisierte einen beklagenswerten Erkenntnismangel in Verbindung mit zunehmender Erfahrungslosigkeit. Trotz des vielfältigen und jederzeit verfügbaren Wissens, so Willemsen, bliebe die Realisierung grundlegender globaler Herausforderungen und Bedrohungen aus. Die unzureichende Auseinandersetzung mit dem Klimawandel war dabei ein zentraler Kritikpunkt.
Posthum wurde sein eindringliches Plädoyer unter dem Titel „Wer wir waren“ publiziert, das aber Fragment eines größeren Buchprojektes blieb. Der Regisseur Marc Bauder plante zu dem Zeitpunkt bereits eine weitere dokumentarische Arbeit im Anschluss an seinen Film „Master of the Universe“, in dem eine ehemaliger Investmentbanker auf die Finanzkrise zurückblickt. Diesmal sollten jedoch mehrere Protagonisten im Fokus stehen und Perspektiven auf globale Probleme ermöglichen. Bauder griff dafür den Titel von Willemsens Buch auf und gruppierte den Film um einige prägnante Zitate, die von Manfred Zapatka mit sonorer Stimme eingesprochen werden. Sie dienen als Ausgangspunkt für längere Statements von sechs Wissenschaftlern und Forschern aus ganz unterschiedlichen Disziplinen.
Den Blickwinkel verändern
Der deutsche Astronaut Alexander Gerst und die US-amerikanische Ozeanologin Sylvia Earle ergänzen sich in ihren kontrapunktischen Perspektiven auf den Globus. Aus der Höhe einer Raumstation erscheinen die trockenen Abbildungen der Kontinente auf einmal greifbar und gewinnen Realität. Gleichzeitig treten die Bedeutungen von Ländergrenzen in den Hintergrund. Aus der Perspektive des Weltraumreisenden wirkt der Globus als Einheit, was Kriege und Bombardierungen noch absurder erscheinen lässt. Die Schönheit von Wolkenschatten lenkt Gersts Fokus auf die Einmaligkeit und Fragilität unseres gemeinsamen Lebensraums. Umgekehrt existieren kaum Blicke vom tiefsten Punkt des Ozeans aus, da ihn bislang nur eine Handvoll Menschen besuchen konnten. Obwohl er mit elf Kilometern Tiefe vergleichsweise nahe liegt, steht er weniger im Fokus als die prestigeträchtige Weltraumforschung. Sinnbildlich ein geradezu blinder Fleck, wenn man bedenkt, dass die Weltmeere das Herz der globalen Ökologie bilden. Für die passionierte Aquanautin Earle spielt neben dem Sehsinn die Akustik eine zentrale Rolle, denn die Schwarmintelligenz der Meeresbewohner funktioniert über vielgestaltige akustische Kommunikationsprozesse.
Wirtschaftliche Paradigmenwechsel
Immer wieder werden im Film Ausbeutungsverhältnisse als Problem für den Klimawandel benannt. Aus dem All erscheinen die Rodungsgebiete im Amazonas wie Krebsgeschwüre. Ob man einen Oktopus noch essen könne, wenn man sich intensiv mit seiner Lebenswirklichkeit beschäftige? Der Mensch sei ungeheuerlich, heißt es mit Verweis auf Sophokles’ Antigone. Zwei Ökonomen vertiefen das Problem aus den Perspektiven des Globalen Nordens und Südens. Der gebürtige Wiener Dennis Snower ist Präsident des Think Tank der „Global Solutions Initiative“ und berät G20-Vertreter, wie ökonomisch-technologischer mit sozialem Fortschritt verknüpft werden kann. Ein Kernproblem ist für ihn die Balance zwischen nationaler Identität und multilateralen Allianzen. Dem Wirtschaftsliberalismus nach Milton Friedman hat er mittlerweile abgeschworen, da ihm dessen Menschenbild obsolet erscheint. Statt Nutzenmaximierung stelle sich heute das Problem der sozialen Kooperation, auch aus psychologischer Perspektive.
Der senegalische Philosoph Felwine Sarr knüpft aus dekolonialer Perspektive daran an. Gemeinsam mit der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy hat er den Präsidenten Emmanuel Macron bei der Restitution afrikanischer Kulturgüter beraten. Für ihn bewegt sich die Menschheit nicht nur im Zeitalter des Anthropozäns, er spricht auch von einem „Kapitalozän“ oder gar einem „Okzidentalozän“. Damit werden die Phänomene der Umweltzerstörung nicht nur dem kapitalistischen Wirtschaftssystem zugeschrieben, sondern auch als Folge Jahrhunderte langer westlicher Dominanz verstanden. Die Subalternität vieler Regionen des Globalen Südens zeige sich konkret durch das Steigen der Meeresspiegel und der damit verbundenen Zerstörung ganzer Landstriche. Die Gegenüberstellung von Menschen, die Macht haben, und denen, die dem Geschehen ohnmächtig ausgeliefert sind, emotionalisiere so stark, dass es schwer werde, sich Kooperation vorzustellen. Sarr schwankt zwischen der Forderung nach einer Verhaltensänderung der westlichen Länder und dem Wunsch, diese einfach zu ignorieren, bis sie sich selbst zerstört haben. Wie schafft man ein „Wir“ mit Menschen, die das nicht wollen? Das ist eine der problematischen Fragen, die im Zentrum von „Wer wir waren“ steht.
Anthropozentrischer Egoismus
Mit dem Forscher-Duo Snower & Sarr verschiebt der Film den Fokus von der Erkenntnistheorie endgültig zu moralischen Bewertungen und religiösen Idealen. Für die Auseinandersetzung mit dem Klimawandel ergeben sich daraus eher neue Probleme als Lösungen. Die posthumanistische Theoretikerin Janina Loh fragt zu Beginn noch nach dem Schwellenwert, den es bräuchte, bis die Dringlichkeit der Bedrohung auch den Letzten aufgegangen ist. Das betrifft ein spezifisch menschliches Problem von Verleugnung. Gleichzeitig fordert sie aber eine Auflösung der Speziesgrenzen und besteht darauf, dass es keine Essenz des Menschlichen gäbe (außer, dass Menschen „queere Wesen“ seien). In der postapokalyptischen Umgebung Fukushimas schildert Loh ihre rasende Wut über die Erbärmlichkeit eines Wesens, das für sich eine herausgehobene Stellung in der Welt beansprucht. Im Gespräch mit einem japanischen KI-Forscher geht die posthumane Ideologie unmerklich Richtung eines Übermenschen, der sich als Cyborg nicht mehr um das Problem des Körpers kümmern muss, weil er ihn mit immer besseren Prothesen selbst zusammenbauen kann. Aber bleibt es für die Frage der Verantwortung nicht unabdinglich, weiterhin nach der Spezifik des Menschlichen zu fragen?
Der französische Molekularbiologe Matthieu Ricard wiederum lebt als buddhistischer Mönch in einem nepalesischen Kloster und forscht zu Neuroplastizität, die im Gehirn durch Meditation initiiert werden kann. Die Behandlung dieses äußerst spannenden Themas erschöpft sich dann aber in einer weiteren Aufzählung der „Irrtümer westlicher Denkweisen“. Individualismus und ein „unangebrachtes Konzept von Freiheit“ werden als souveräne Anmaßungen dargestellt, während gleichzeitig die Einübung einer Herrschaft über den Geist vorgeschlagen wird, die am besten durch die Institutionen kulturell implementiert werden soll. Hedonistische Exzesse und Konsum seien egoistische Übel, die besser überwunden werden sollten, wenn man sich freundliche Worte auf der eigenen Beerdigung erhoffe. Dass auch der neoliberale Kapitalismus die buddhistische „Awareness“ und den kontrollierten Verzicht mittlerweile freudig in die eigenen Kreisläufe integriert hat, wird hingegen nicht reflektiert.
Das Problem der Anschaulichkeit
Vor der Fülle an Monologen geraten die (extra-)terrestrischen Bilder in den Hintergrund, die dem Film eine poetische Note verleihen sollen. Der leuchtende Globus aus dem All, unendliche viele Nuancen von Meeresblau oder die Landschaften Senegals und Japans sollen zwischen den Forschern vermitteln, ohne dass sich eine Autonomie der Bilder einstellen kann. Gerade diese hätte aber in ästhetischer Form zum Ausdruck bringen können, was in der Sprache der Wissenschaftler nicht vermittelbar ist. Der Klimawandel ist ja gerade ein Problem fehlender mentaler Bilder. Um seiner Komplexität gerecht zu werden, braucht es kulturelle Symbolisierungsprozesse. Godfrey Reggios „Koyaanisqatsi“ kommt in den Sinn, auch weil Marc Bauder diese visuellen Passagen mit einer zeitgenössischen Komposition unterlegt, die von einem Sinfonieorchester eingespielt wird. Im Gegensatz zu Reggios eindringlichem Experimentalfilm setzt sich in „Wer wir waren“ aber das konzeptionelle Fernsehformat durch. Bauders Vorgängerfilm „Master of the Universe“ funktioniert in seiner Form als Monolog so gut, weil der Protagonist sprechend eine ganze Welt entfalten kann, die mit der visuellen Kälte der Bankenarchitektur in Beziehung tritt. „Wer wir waren“ fehlt hingegen diese Konzentration und Intensität, auch weil die Beiträger Medienprofis sind, die es gewohnt sind, glatte Statements abzugeben und als Sprecher von NGOs zu agieren.
Bilder eines Besuchs von Angela Merkel, bei dem Dennis Snower seine Bewunderung für die Kanzlerin zum Ausdruck bringt, oder von einer Art TED-Talk für Ozean-Aktivisten, nach dem junge Menschen ehrfürchtig Sylvia Earle die Hand schütteln, unterstreichen, wie sehr das Politische dem Film äußerlich bleibt. Die Botschaft, die vermittelt werden soll, ist zwar deutlich. Doch die Frage ist, wie nachhaltig sie wirkt, wenn die Figuration der Bilder fehlt oder sie den Informationen untergeordnet bleiben. Die Erfahrung, von der Roger Willemsen spricht, lässt sich nicht an Talking Heads delegieren. Sie sollte durch die Ästhetik des Films beim Zuschauer selbst entstehen.