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Filmkritik
Massiv und scheinbar unverrückbar ragen die Kreidefelsen über dem Strand von Dover empor. So oft, wie dieses Naturdenkmal im Laufe der Jahrhunderte sentimental verklärt, patriotisch aufgeladen, beschrieben und besungen wurde, ist eine Wanderung auf diesen Klippen keineswegs ein einfacher Spaziergang. Es muss vielmehr als eine Art Pilgerfahrt verstanden werden. Obwohl Grace (Annette Bening) seit vielen Jahren in deren unmittelbarer Nähe lebt, hat sie das Gefühl der Erhabenheit angesichts der Felsen nie verloren; obendrein beflügeln sie ihre Vorliebe für Poesie. Genauso fest und jedem Angriff trotzend wie die weißen Klippen scheint ihr auch ihre Ehe mit Edward (Bill Nighy) zu sein; nach beinahe 30 Jahren des Zusammenseins eine durchaus berechtigte Annahme.
Sobald Grace aber in das kleine gemeinsame Haus zurückgekehrt ist, mehren sich die Anzeichen, dass das Paar inzwischen eher neben- als miteinander lebt. Während Grace bestimmt auftritt und durch ihre bunte Kleidung immerhin einen Hauch von Exzentrik ausstrahlt, wirkt Edward in farbloser Biederkeit erstarrt. Nach ihrem Wohlsein erkundigt er sich gar nicht erst, Tee brüht er nur für sich allein auf, und auf die Frage, ob sie denn glücklich seien, hat er keine Antwort.
Das Interesse des Geschichtslehrers scheint ganz von Details seines Fachbereichs eingenommen; insbesondere Napoleons Rückzug nach der Niederlage in Russland beschreibt er mit Faszination. Damit die Armee ihr heroisches Gesicht wahren konnte, wurden schwer verwundete Soldaten zwar mitgenommen, aber so auf den Wagen platziert, dass sie herunterfallen und zum Sterben zurückbleiben mussten; die Überlebenden zogen weiter, ohne sich umzublicken.
Zwischen „Hope Gap“ und Napoleon
Die Leidenschaft des Paares mag in „Wer wir sind und wer wir waren“ von William Nicholson erloschen sein, doch was das Bewusstsein für Symbolträchtigkeit angeht, sind Grace und Edward noch obenauf. Für Grace ist eine versteckte Stelle auf den Kreidefelsen mit Namen „Hope Gap“ – so lautet auch der Originaltitel des Films – die stete Anlaufstelle für ihre kaum noch bestehenden Hoffnungen auf die Wiederkehr des Glücks in ihrer Ehe. Und auch Edwards Faible für den napoleonischen Rückzug von Moskau kommt nicht von ungefähr. Denn auch er vollzieht einen Abgang ohne Rücksicht auf die Verluste hinter ihm. Als die gläubige Katholikin Grace eines Sonntags in der Messe ist, vertraut er dem zu Besuch weilenden gemeinsamen Sohn Jamie (Josh O’Connor) an, dass er sich in eine andere Frau verliebt habe und Grace verlassen werde; am liebsten noch, bevor sie aus der Kirche zurückkomme.
Diese kaltherzige Handlung redet Jamie seinem Vater zwar noch aus, doch den Rest kann er nicht verhindern. Nach einer letzten Unterredung zieht Edward tatsächlich aus. Grace versenkt sich erst in ihrem Unglück und versteift sich dann auf die trotzige Überzeugung, ihren Mann auf die eine oder andere Weise doch wiederzugewinnen. Der hat allerdings längst seine Handynummer geändert und geht auch sonst jedem Kontakt aus dem Weg. Jamie versucht sich als Vermittler, kann aber kaum als kundiger Ratgeber gelten. So wird ihm wenigstens einmal von Freunden unterstellt, durch seine „Unnahbarkeit“ seinerseits keine Beziehung zuzulassen.
Drama einer zerfallenden Ehe
William Nicholson konzentriert das Drama einer zerfallenden Ehe auf die drei Hauptpersonen, die bittere Worte für das Verhalten der anderen finden, ohne sich einzugestehen, dass sie womöglich selbst versagt haben. In die Dialoge zwischen Frau und Mann sowie zwischen den beiden Elternteilen und ihrem Sohn fließen zudem immer wieder jene Themen ein, die auch Nicholsons bekanntesten Film „Shadowlands“ über Passion und Sinnkrise des Schriftstellers C.S. Lewis prägen: Liebe, christlicher Glaube, Poesie und Tod.
Doch anders als bei diesem als Spielfilm wie zuvor als Fernsehdrama und Theaterstück gleichermaßen überzeugenden Stoff fehlt es „Wer wir sind und wer wir waren“ an einer prägnanten filmischen Umsetzung. Das dramaturgische Gerüst war schon in der Bühnenvorlage, die 1999 unter dem Titel „The Retreat from Moscow“ uraufgeführt wurde, eher dünn, was durch bewusste Reduktion im Bühnenbild sowie eingeflochtene Gedichtzitate aber als konzeptuelle Absicht erkennbar war.
In der Filmfassung ist das Ambiente dagegen realistisch, ohne dass die Schauplätze sonderlich Profil gewinnen würden; insbesondere bei den schauträchtigen Naturkulissen der Felsen fällt auf, dass Nicholson wenig Gefühl dafür beweist, seine ausführlichen Dialoge in irgendeine Beziehung zum Bildhintergrund zu setzen. Dass die ein oder andere seiner Einlassungen auf Egoismus, Angst vor Einsamkeit, Wut und Resignation, Glauben, Skepsis und Zweifel dadurch hohler klingt, als sie geschrieben ist, schwächt als natürliche Folge die Wirksamkeit des Plots merklich ab.
In Abständen gelingen dem Film allerdings dennoch einprägsame Momente, insbesondere wenn die ruhige Erzählweise durch einen kurzen Ausbruch des Temperaments oder der Gefühle unterbrochen wird. Alles in allem aber ist Nicholsons Herangehensweise ein wenig zu dezent, auf Distanz bedacht und elliptisch, um im Medium des Kinos größere emotionale Wellen zu erzeugen. Die hätten vielleicht von außergewöhnlichem darstellerischem Einsatz kommen können, doch Annette Bening, Bill Nighy und Josh O’Connor agieren zwar grundsolide, sind in diesem Film aber nicht herausragend. So löst „Wer wir sind und wer wir waren“ vor allem eines nicht ein: Die titelgebende Frage drängt sich nie so auf, dass eine Antwort darauf mit sonderlich viel Spannung erwartet würde.