- RegieStanislaw Mucha
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2014
- Dauer104 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 0
Vorstellungen
Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
Wie gastlich ist eigentlich das „Gastliche Meer“, wie das Schwarze Meer auch genannt wird? Stanislaw Mucha reiste für seinen Dokumentarfilm einmal um das sagenumwobene Gewässer. Dabei fand er nicht nur die skurrilen Typen, die man aus seinen früheren Filmen kennt, sondern auch jede Menge fiktive Anekdoten mit wahrem Kern – durchaus unterhaltsame Lebenslügen, mit denen sich die Schwarzmeeranwohner ihren krisenbeschwerten Alltag erträglich gestalten. Auf der 5000 Kilometer langen Reise durch fünf bis sieben Anrainerstaaten – je nachdem, ob man die zeitweise, gänzlich oder gar nicht souveräne Krim und Abchasien als vollwertige Staaten betrachtet oder nicht – sucht Mucha nicht nach Geschichten über Krieg und Verzweiflung oder gar nach Erklärungen dafür. Lange vor der Annexion der Krim durch Russland begibt er sich auf seine „Odyssee“, mit der er zunächst gegen weit verbreitete Düster-Klischees über diese Region anrennt. So präsentiert er, zunächst fast trotzig, ein illustres, oft schrilles und dabei äußerst sehenswertes Typenpanoptikum – Zufallsbekanntschaften, die nicht nur ihre Überlebenskunst zur Schau stellen, sondern auch historische Anekdoten wie die von den Amazonen, die sich eine Brust amputierten, um besser mit Pfeil und Bogen umgehen zu können und ihre Männer „nach Gebrauch“ töteten. Oder die des römischen Dichters Ovid, dem im ukrainischen Ovidopol und im rumänischen Constanţa jeweils ein Denkmal gewidmet ist und der angeblich ans Schwarze Meer verbannt wurde, weil er eine Affäre mit Cäsars Schwester hatte. Geschichten von Frauen und Männern, denen man gerne zuhört. Anekdoten, deren Wahrheitsgehalt genauso alltagspoetisch frisiert ist wie die Schuldzuweisungen zwischen den Völkern. In einem Interview berichtet Mucha von den Schwierigkeiten, die das Filmteam bei jedem Grenzübertritt von Zöllnern bereitet wurde. In den Gesprächen mit seinen Protagonisten merkt man, wie tief diese Grenzen in den Köpfen verankert sind. „Das haben Dir die Türken erzählt, dass wir Delfine fangen“, wirft ein bulgarischer Fischer seinen östlichen Nachbarn vor; und während weder Russen noch Abchasier noch Georgier erklären können, warum es eigentlich jemals Krieg zwischen ihren Völkern gegeben hat, mahnen martialische Denkmäler zum „ewigen Ruhm den Helden Abchasiens“ oder erinnern, noch immer, an die Siege der nicht weniger ruhmreichen Sowjetarmee. Die Frage, warum Lebenslust und Misstrauen, zwischenmenschliche Neugier und überheblich-distanzierender Nativismus am Schwarzen Meer so eng nebeneinander liegen, kann „Tristia“ aber nicht beantworten. Mucha hört seinen Protagonisten zu, was heute, etwa zwei Jahre und einen Krieg nach den Dreharbeiten, nicht mehr ganz befriedigt. Ob die beiden Tartaren-Mädchen, die Mucha an der malerischen Steilküste der Krim interviewt, auch heute noch so offen von den Vertreibungen in der Sowjet-Zeit und dem in der unabhängigen Ukraine gewonnenen ethnischen Selbstbewusstsein erzählen würden? So lauert hinter der schrillen und immer leicht morbiden Oberfläche der bunt gekleideten Mädchen, der zahnlosen Alkoholiker in ihren Hawaii-Hemden oder skurrilen Darbietungen wie die „Miss Silicon Bulgarien“-Wahl der Beigeschmack im Verborgenen lauernder menschlicher Abgründe. Wenn der Fotograf Mucha die Kamera etwas länger auf seine Protagonisten hält, was er als gelungenes künstlerisches Stilmittel öfters tut, spricht aus den Blicken der porträtierten Kinder, Männer und Frauen zunächst nur ein mit lautem Humor gepaartes Selbstbewusstsein, schon bald aber eine Ungewissheit, wenn nicht sogar Furcht. Furcht vor der Geschichte, vor Gegenwart und Zukunft, möchte man angesichts der national segregierten Erinnerungs- und Alltagskultur anmerken. Es wäre schön, wenn die Protagonisten die Neugier, mit der sie dem „Filmteam aus Deutschland“ begegnen, auch ihren Nachbarn entgegenbringen könnten. Es ist das Verdienst von Muchas Film, auf diesen Zwiespalt aufmerksam zu machen, ohne sich in eindimensionalen Erklärungen zu verfangen. Treffend formuliert es sein letzter Gesprächspartner mit Blick auf das Schicksal Ovids in der Verbannung: „Die Zeit zwang ihn, sich an die Einheimischen zu gewöhnen. Schließlich wurde er heimisch.“ Ein Aphorismus, der regionaltypische Lakonie mit der Gewissheit verbindet, dass irgendwann doch alles ein wenig besser werden könnte. Eine Hoffnung, von der auch „Tristia“ erzählt, weit verborgen und doch so nah dran an den bizarren Fassaden seiner außergewöhnlichen Protagonisten.