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Filmkritik
Nimm den besten Orgasmus, den du je hattest, multiplizier ihn mit 1000, und du bist noch nicht einmal nah' dran." Die hymnische Rede ist von Heroin, dem Wunderzeug in den Adern, das Marc Renton und seine Clique in ekstatische Verzückung sinken läßt; der zerstörerischen Horrordroge, die in einen aussichtslosen Teufelskreis von Abhängigkeit und Beschaffungskriminalität zwingt und den Aussteigern Schwerstarbeit auferlegt, als hätten sie sich freiwillig zur Akkordarbeit unter Tage verpflichtet. In der Welt der Junkies und verlorenen Chaoten, die Danny Boyle mit einem furiosen Bildersturm auf die Leinwand brennt, wird der krasse Gegensatz zwischen euphorischen Glücksmomenten und dem permanenten Kampf um den nächsten Schuß höchstens mit einem Achselzucken quittiert: "Wer will noch Gründe, wenn man Heroin hat?" Was zählt, ist die sofortige Befriedigung, der augenblickliche Kick. Für andere Bedürfnisse bleibt in den heruntergekommenen Sozialwohnungen von Edinburgh wenig Raum; Versuche, von der Nadel wegzukommen, scheitern zumeist, und schafft es einer wider Erwarten doch einmal, eröffnen sich ständig neue Möglichkeiten zum Rückfall.
Renton, aus dessen Blickwinkel die Geschichte mit Rückblenden und Off-Kommentaren entwickelt wird, zählt zu einer Handvoll desillusionierter Drogensüchtiger, die alles, sprichwörtlich alles tun, um an Stoff zu kommen. Hätten Boyle und sein talentiertes Team mit "Kleine Morde unter Freunden" (fd 31 467) ihren suggestiven Erzählstil nicht schon am entgegengesetzten Ende der Gesellschaftsskala demonstriert, würde insbesondere die Szene, in der Renton zuerst mit den Händen, dann unter Einsatz seines ganzen Körpers in der überbordenden Klosettschüssel nach zwei Opiumzäpfchen fahndet, dazu verleiten, von einer spezifischen, eigens für diesen Film entwickelten Grotesk-Sprache zu reden. Doch Boyles Faible für extreme Kamerapositionen, den an Comics und Videoclips orientierten Einsatz von Weitwinkelobjektiven, Groß- und Detailaufnahmen sowie der Hang zu surrealen Effekten fand in Irvine Welshs zum Kultbuch avancierten Episodenroman "bloß" ein kongeniales Betätigungsfeld, das mit viel Sarkasmus und rabenschwarzem Humor beackert wurde.
Das Ergebnis sind Charaktere wie Spud, ein Looser, der stets etwas unbeholfen nach der nächsten Dröhnung fahndet, oder der smarte, penibel auf sein Äußeres bedachte Sick Boy, dessen wahre Sucht James-Bond-Filme sind; Begbie, ein gefährlicher Psychopath, läßt die Finger vom Rauschgift, schüttet stattdessen endlos Bier in sich hinein und zettelt am liebsten blutige Schlägereien an; Tommy, der blonde Sportler und Frischluft-Fanatiker, will zu diesem Haufen Abhängiger anfangs so wenig passen wie die frühreife Schülerin Diane, die sich Renton angelt, und die altkluge Weisheiten absondert. Wirklich einschneidende Änderungen im Kampf um das tägliche Dope ergeben sich erst, als Renton und Spud bei der "Arbeit" geschnappt werden. Spud wandert in den Knast, Renton muß auf Entzug. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten klappt es damit, weil sich Rentons Eltern mit einer Radikalkur der Sache annehmen, was den Zuschauern nicht nur ein gespenstisches Horror-Szenario an Entzugserscheinungen beschert, sondern auch einen Hinweis auf den Filmtitel gibt: in seinen Wahnvorstellungen beginnt Renton, die Dieselloks auf der Wandtapete zu zählen, "train-spotting", eine Spottbezeichnung für einen, der sich in völlig unwichtige Dinge verbeißt. Nach dem erfolgreichen Höllentrip wagt Renton in London den Neuanfang. Das geht solange gut, bis sich Begbie auf der Flucht vor der Polizei bei ihm einquartiert und aushaken läßt. Als auch noch Sick Boy seine Dealer- und Zuhältertätigkeit in Rentons Appartment verlegt und einen großen Heroindeal plant, sinnt Renton auf Abhilfe. Obwohl sich im Fortgang der immer wieder lakonisch zugespitzten Erzählung eine Entwicklung des Helden beobachten läßt, steht nicht der Reifeprozeß im Mittelpunkt, sondern die Folgen der einzelnen episodenhaften Stationen. Wenn Renton schließlich mit dem Löwenanteil des Drogengeldes aus London abhaut und sich dabei selbst versichert, künftig vom Job bis zur Zahnersatzversicherung alles das zu wählen, was bürgerliche Normalität verheißt, ist das weniger ein schlüssiger Endpunkt als der Beginn eines weiteren Kapitels.
Dies tut der exzentrischen Brillanz dieses ungewöhnlichen Films keinen Abbruch, weil Boyles Dramaturgie auf Überraschung und Überrumpelung setzt. Die zahlreichen emotional aufwühlenden Szenen bilden den eigentlichen Kern, um die die Story nur lose geschlungen ist - eine Erzählweise, die deutlich mehr an menschlichen Befindlichkeiten und seelischen Zuständen als am Plot interessiert ist. Boyles Gespür für die szenische Potenz der Einstellungen, verstärkt durch unerwartete Formatwechsel und schnelle, suggestive Schnitte, der psychedelische Einsatz von Licht- und Raumeffekten sowie das luzide Spiel mit Brit-Pop von "Blur" bis "Pulp" vereinen sich zu einem kraftvollen Duktus, der vom ersten Augenblick an für sich einnimmt. Die in England geführte Diskussion, inwiefern Boyles anarchistische Junkie-Story letztlich nicht zu einer Verharmlosung der Heroingefahr beitrage, liegt darin begründet. Trotz der schockierenden Bilder des Elends und der Verwahrlosung unter den Drogensüchtigen beschwört der Film in seiner Exaltiertheit ein Lebensgefühl, das für viele mit Alkohol, Drogen und der rauschhaften Überwindung der engen Persönlichkeitsgrenzen verbunden ist. Der Erfolg des spektakulären Gossendramas, das in England zum zweiterfolgreichsten britischen Film aller Zeiten avancierte (und das man sich um des schottischen Dialekts willen unbedingt im Original ansehen sollte!), signalisiert allerdings auch, daß bei aller Tragik auch das für Kontinentaleuropäer manchmal hart ans Makabre grenzende Unterhaltungspotential rezipiert wird.