Filmplakat von Die Reise nach Tokio

Die Reise nach Tokio

136 min | Drama | FSK 12
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Als Shukichi und Tomi nach langer Reise in Tokio ankommen, merken sie schnell, dass ihre beiden ältesten Kinder - Kōichi (Sô Yamamura) und Shige (Haruko Sugimura) - wenig Zeit für sie haben. Sohn Kōichi ist Arzt, Tochter Shige hat einen Schönheitssalon. Wirkliche Aufmerksamkeit bekommt das angereiste Seniorenpärchen nur von Noriko (Setsuko Hara), der Witwe des im Zweiten Weltkrieg gefallenen Sohnes. Shukichi und Tomi verbringen bloß wenige Tage in der Hauptstadt und werden von ihren Kindern danach in ein Seebad gebracht, wo es ihnen aber nicht gefällt. Auf dem Rückweg zu ihrem Heimatort wird Tomi schwer krank...
  • RegieYasujirō Ozu
  • Dauer136 Minuten
  • GenreDrama
  • AltersfreigabeFSK 12
  • TMDb Rating8/10 (995) Stimmen

Vorstellungen

Leider gibt es keine Vorstellungen.

Filmkritik

Vor knapp zwei Jahren ist Yasujiro Ozu in Tokio gestorben, der einzige Regisseur, dessen Werk man als charakteristisch für das Leben in Japan, für die japanische Denkweise bezeichnen kann. In den deutschen Kinos war von seinen 54 Filmen nur einer, "Abschied in der Dämmerung", zu sehen. Einige wenige Filmfreunde lernten in einer Retrospektive ein paar weitere Filme kennen. Die Mehrzahl des deutschen Kinopublikums dürfte den Namen Ozu immer noch nicht zur Kenntnis genommen haben. Um so wichtiger ist die Begegnung mit der "Reise nach Tokio", die leider auch nur vereinzelt und in einer höchst fehlerhaft untertitelten Kopie zu sehen sein wird.

Was Ozus Filme von vornherein aus dem gewohnten Angebot hervorhebt, sind ihre Themen. Ozu liebt die Menschen, die er uns zeigt, und er braucht darum nicht die sogenannten großen Stoffe. Seine Sensationen sind stille Sensationen, sind Berichte aus einer Welt und Gesellschaft, die in der Veränderung begriffen ist; so sehr, daß Menschen daran zu zerbrechen drohen; so langsam aber auch und so scheinbar lautlos, daß die Menschen nicht merken, was ihnen geschieht und mit ihrem Bewußtsein hinter der sich unaufhaltsam wandelnden Historie herhinken. In jenen, die man gemeinhin die kleinen Leute nennt, findet Ozu denn auch mehr und mehr die Seismographen jener Erschütterungen, die das traditionsreiche und traditionsgebundene Japan bewegen. Das Zerbrechen familiärer, allgemein gesellschaftlicher, philosophischer oder auch künstlerischer Traditionen, das sich im Bewußtsein gerade der Angehörigen des Mittelstandes widerspiegelt, läßt sich in den besten Filmen Ozus immer wieder als beherrschendes Thema finden.

"Die Reise nach Tokio" schildert die Veränderung innerhalb der Generationen. Zwei alte Leute aus einer Hafenstadt fahren nach Tokio, um nach langer Zeit ihre Kinder noch einmal wiederzusehen. Es wird das letzte Mal sein, daß sie sich begegnen. Die Alten wissen es und auch die Jungen. Doch die Jahre und die unterschiedlichen Lebensverhältnisse haben die Familie einander entfremdet. Die Eltern finden sich in der ungewohnten Welt der Kinder und Enkel nicht zurecht, den Kindern werden die Eltern bald zur Last. Man begegnet sich mit bemühter Höflichkeit und versucht, die wahren Empfindungen hinter Gesten der Freundlichkeit zu verbergen. Um die beiden alten Leute rasch wieder los zu werden, schickt man sie in ein Seebad, unter dem Vorwand, sie könnten dort bessere Erholung finden. Doch das Hotel ist modern und laut, "etwas für junge Leute", so daß die Eltern aus den schlaflosen Nächten bald wieder nach Tokio fliehen. Nur eine Schwiegertochter, die Frau eines verstorbenen Sohnes, nimmt sich mit Freude und Liebe der beiden Alten an. Sie zeigt ihnen die Stadt und nimmt die Schwiegermutter in ihrer beengten Wohnung auf. Nach der Rückfahrt in ihre Heimatstadt stirbt die alte Frau an den Anstrengungen der Reise. Nun kommen die Kinder ihrerseits zum letzten Besuch. Für Augenblicke scheint alles wie früher zu sein, als sie sich in der vertrauten Umgebung zusammenfinden. Doch schon bald beginnt die älteste Tochter nach "Erinnerungsstücken" auszuschauen, nach Dingen, die sie brauchen kann.

"Ist das Leben nicht enttäuschend?" läßt Ozu in der Schlußszene fragen. Die Antwort bleibt dem Zuschauer überlassen. Er hat eine Situation, hat einen Konflikt erlebt, der Aufschluß gibt über die Komplikationen im menschlichen Zusammenleben. Die Ursachen, das hat Ozu deutlich gemacht, liegen ebenso im menschlichen Herzen, in seiner zu geringen Liebeskraft, seiner Gedankenlosigkeit und mangelnden Opferbereitschaft wie auch in den prägenden sozialen Bedingungen und den Umwelteinflüssen einer industrialisierten Großstadt begründet. Es schiene von den Menschen zu viel verlangt, sich in die Denkvorstellungen einer anderen Generation hineinzuversetzen, nicht nur mit sich selbst und für sich selbst zu existieren, wäre nicht die Gestalt der Schwiegertochter. Die Erfahrung dieser Reise nach Tokio umfaßt auch sie und nicht zuletzt sie. In ihre Gestalt legt Ozu seine ganze Hoffnung. So steht am Schluß dieses Films, der nichts anderes getan hat, als Illusionen abzubauen, der Glaube an die Möglichkeit einer wahren, helfenden, umfassenden Liebe unter den Menschen, die Enttäuschung und Resignation überwinden kann. Ozu gibt diesen Glauben an den Zuschauer weiter wie eine Frage.

Ozus Filme sind immer und in jeder Szene ein Dialog mit dem Zuschauer. Das findet seinen Niederschlag in der Form seiner Filme. Gibt es in seinen Frühwerken noch minimale Bewegung, Fahrten zumindest, so verschmäht er später sowohl Kamerawagen wie Drehstativ. Jedes Bild steht damit meist für mehrere Sekunden. Und wenn sich auch die Akteure bewegen, so bleibt doch der Bildausschnitt der gleiche, und er kann in seiner ganzen Struktur auf den Betrachter einwirken. Jede Möglichkeit zur Identifikation mit dem Gezeigten ist dem Zuschauer so verwehrt. Er ist gezwungen, das Detail der Komposition zu erfassen und jede Einstellung kritisch zu lesen, wie man ein Bild oder einen Text liest. Ozus konsequente Manier, nicht zu erfinden, sondern zu beschreiben, wird aber auch an seiner Art des Schneidens offenbar. Gilt es oft als goldene Regel, Dialoge abzubrechen oder Auseinandersetzungen vor ihrem Höhepunkt zu kappen, um die Spannung des Publikums noch zu steigern, so spielt Ozu jedes Gespräch, jede verwickelte Situation voll aus. Ist einmal ein Höhepunkt überschritten, arbeitet er mit "Stilleben", mit Aufnahmen von menschenleeren Zimmern und Fluren, mit Bildern insgesamt, die den Betrachter geradezu zwingen, über das eben Geschehene nachzudenken.

Ozus Realismus ist in allem ein Realismus der Innerlichkeit, nicht des romantischen Seelengrundes allerdings, sondern jener Innerlichkeit, in der sich die wahren menschlichen Dramen vollziehen in einer Welt, deren rein naturalistisches Konterfei nichts mehr über die sich überall vollziehenden gesellschaftlichen wie darum auch privaten Wandlungen eben dieser Welt auszusagen vermag. Ob Stilprinzip und Themenwahl dieses Autors einer konservativen Haltung entspringen - wie es ihm seine Gegner vorwerfen -, wird relativ gleichgültig angesichts eines Werkes, das mit der wesentlichen Wirklichkeit vollkommener korrespondiert als die Parforce-Touren sogenannter Avantgardisten.

Erschienen auf filmdienst.deDie Reise nach TokioVon: fd (24.10.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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