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Filmkritik
Es ist Sommer in Oslo, der Tag neigt sich seinem Ende zu. Goldenes Licht schwebt über der Stadt, die sich dem Blick einer jungen Frau (Renate Reinsve) wie ein Panorama unendlicher Möglichkeiten öffnet. Rauchend steht sie in einem zarten schwarzen Abendkleid auf einer Anhöhe, hat für einen Augenblick das laute Treiben einer Feier in der hinter ihr liegenden Villa verlassen, um kurz ganz bei sich zu sein. Statt einer Handtasche trägt sie nur ihr Smartphone bei sich. Der auftauchende Reflexionsraum verschließt sich schon wenige Augenblicke später, als ihre Aufmerksamkeit ganz automatisch zurück zum Bildschirm wandert. Dabei ist dieser Moment ein Wendepunkt in Julies Leben. Wie sich herausstellen wird, markiert er eine Zäsur mit weitreichenden Folgen.
Ganz im Stil der beiden ersten Teile seiner „Oslo-Trilogie“ („Reprise“, 2008 und „Oslo, 31. August“, 2011) entwirft der Regisseur Joachim Trier die Geschichte seiner Protagonistin in einem literarischen Gestus, diesmal in zwölf Kapiteln, gerahmt von Prolog und Epilog. Anders als in „Reprise - Auf Anfang“ ist es eine weibliche Erzählerstimme aus dem filmischen Off, die Julies Entwicklung und Werdegang mit sanfter Ironie kommentiert. Während die beiden Hauptdarsteller in Triers Debütfilm damit beginnen, ihr erstes Romanmanuskript einzusenden, weil sie unbedingt Schriftsteller werden wollen, ist Julies Suche nach der eigenen Verwirklichung sehr viel brüchiger. Die Gründe dafür liegen nicht nur in der Geschlechterdifferenz, sondern auch in einer Vielzahl gesellschaftlicher Veränderungen, die Joachim Trier zu einem konflikthaften Horizont des Films verdichtet.
Dem Schulabschluss mit Bestnote Sinn verleihen
Zu Beginn ist Julie noch Medizinstudentin ohne große Leidenschaft, in der Hoffnung, auf diese Weise dem Schulabschluss mit Bestnote irgendeinen Sinn zu verleihen. Sie findet keine Verbindung zum Fach, ständig blinken die Benachrichtigungen auf dem Smartphone und zerstören jeden Versuch der Konzentration. Die Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen gelingt selbst durch einen vorübergehenden Wechsel auf ein altes Nokia-Handy nicht. Schon bald scrollt Julie wieder durch ihre iPhone-Bilder, probt den Neuanfang mit einem Fachwechsel in die Psychologie.
Eine neue Frisur, ein anderer Look und die Trennung von ihrem Freund unterstreichen den neuen Identitätsentwurf, der wieder nicht von Dauer ist. Als Julie ihrer Mutter offenbart, dass sie vorhat, ihr Studium abzubrechen, um Fotografin zu werden, erntet sie die immer gleiche, unpersönliche Affirmation. Reibungspunkte sucht die junge Frau bei ihren Eltern vergebens. Hinter der liberalen Erziehung offenbart sich eine irritierende Gleichgültigkeit, die Julie noch am ehesten an der Abwesenheit ihres Vaters festmachen kann. Schon vor Jahrzehnten hat er eine neue Familie gegründet und gibt sich wenig Mühe, sein Desinteresse an ihr zu verbergen. Dass Julie mit Ende zwanzig noch bei ihrer Mutter wohnt, ist nicht nur pragmatischen Gründen geschuldet, sondern auch einem missglückten Ablösungsprozess.
Liebe und Selbstfindung
Die Begegnung mit Aksel (Anders Danielsen Lie) bringt eine neue Dynamik in Julies Alltag. Er lebt selbstständig von den provokanten Underground-Comics, die er zeichnet und hat klar konturierte Interessen. Schallplatten, Bücher und Filme säumen die Regale in seiner Wohnung, wie ein Schwamm nimmt er kulturelle Artefakte jeder Art auf, verarbeitet sie in seinen Entwürfen. Ein Altersunterschied von vierzehn Jahren zwischen ihm und Julie lässt ihn zögern. Er ahnt, dass dieser Generationenkonflikt größer sein könnte, als die Zahl der Jahre es nahelegt. Zu viel hat sich seit der Entgrenzung des Internets auch in den sozialen Beziehungen der jungen Menschen verändert. Es zeigt sich in Julies sprunghafter Orientierungslosigkeit, ihrem Schwanken zwischen Nähe und Distanz, einer ständigen Aktualisierung der eigenen Identität. Dennoch, oder gerade deswegen, verliebt sich Aksel hoffnungslos in Julie.
Als die beiden zusammenziehen, beginnt für das Paar eine herausfordernde Zeit. Der eigenen Kreativität nachzugehen und trotzdem in Beziehung zu sein, ist vor allem für Julie nicht einfach. Aksels Selbstständigkeit wirkt gleichermaßen inspirierend wie einschüchternd. Während er von seiner Kunst gut leben kann, arbeitet sie nebenbei in einer Buchhandlung, um Geld zu verdienen. Wutentbrannt über die fehlende Aufmerksamkeit Aksels verfasst sie einmal einen Essay mit dem provokanten Titel „Oralsex in der Ära von #MeToo“, der zu einem Social-Media-Ereignis wird. Doch ein Blog-Artikel hat in der realen Welt ein anderes Gewicht als verkaufte Ausgaben von Comic-Sammelbänden. Julie ist so viel Reibung und Herausforderung nicht gewohnt. Ihr fehlt das Vermögen, Frustration auszuhalten und in einer Beziehung Höhen und Tiefen zu durchleben.
Ein Bruch, der den Film in zwei Hälften teilt
So kommt es an dem schicksalhaften Sommerabend, als Aksel sein neues Werk feiert, zu einem Bruch in Julies Leben, der auch den Film in zwei Hälften teilt. Anstatt den Moment für sich allein zu nutzen, um die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu ergründen, zieht es Julie auf der Suche nach Ablenkung in die Weite Oslos. Kurzerhand mischt sie sich auf einer privaten Feier einfach unter die Gäste und lernt dort Eivind (Herbert Nordrum) kennen. Der Funke springt schnell über, doch da beide vergeben sind, entspinnt sich ein selbstironisches Spiel um die Grenzen des Fremdgehens. Ist das Trinken aus derselben Flasche schon eine Übertretung? Ein gemeinsamer Gang auf die Toilette oder das Sich-Versenken in den Geruch eines verschwitzten Hemdes? Noch nie war eine gemeinsam gerauchte Zigarette so poetisch und erotisch zugleich.
Eivind und Julie verraten sich auch am nächsten Morgen ihre Nachnamen nicht, um die Versuchung zu vermeiden, sich auf Social Media ausfindig zu machen. Ein seltener Moment von Unverfügbarkeit, der in beiden eine ungekannte Leidenschaft weckt. Doch Oslo ist kleiner als gedacht, ein zufälliges Wiedersehen bleibt nur eine Frage der Zeit. Für Julie spaltet sich das Leben innerlich in zwei Teile. Sie fühlt sich nicht bereit für Aksels Kinderwunsch und seine grundsätzliche Verbindlichkeit. Der gleichaltrige Eivind scheint ihr in seiner Wahrnehmung der Welt sehr viel ähnlicher zu sein, endlich eine lang ersehnte Spiegelung ohne Konflikte. Aber ist die seelische Entwicklung ohne eine Konfrontation mit dem anderen zu haben?
Prägnantes Porträt des Zeitgeistes
Über die dynamische Konstellation eines Beziehungsdreiecks entfaltet Joachim Trier ein prägnantes Porträt des Zeitgeistes aus der Gegenwart heraus. Dabei arbeitet er die vielfältigen technologischen und sozialen Umbrüche auf der Figurenebene mit großer psychologischer Genauigkeit heraus. In der Ära von „Political Correctness“ und „Cancel Culture“ werden Aksels freizügige Comics plötzlich zu einem Paradebeispiel für die berüchtigte „toxische“ Männlichkeit. Seine Versuche, sich bei einem Radio-Interview gegenüber zwei Feministinnen zu verteidigen, sind so gut geschrieben, dass die Szene beinahe exemplarisch für die neuen Kulturkämpfe wird, die ohne die sozialen Netzwerke undenkbar wären. Zugleich betrauert Joachim Trier in Aksels Figur auch einen kulturellen Verlust, der damit einhergeht. Der tägliche Gang in den Plattenladen und die private Filmsammlung zeugten noch von bedeutungsvollen und auch identitätsstiftenden Objektbeziehungen, die im immateriellen Zeitalter des Streaming im Verschwinden begriffen sind. Welche sozialen Konsequenzen sich aus dieser permanenten digitalen Verfügbarkeit ergeben, zeigt Joachim Trier in den Beziehungen und scheiternden Selbstentwürfen seiner Figuren sehr eindrücklich.
Gleichwohl ist „Der schlimmste Mensch der Welt“ ein lebensbejahender Film voller untergründigem Humor. Er zeigt Julies Weg auf der Suche nach sich selbst in einer undurchsichtigen, immer schneller werdenden Welt. Die Konventionen der Coming-of-Age-Narrative stimmen nicht mehr, da die Reibungspunkte, an denen sie sich früher entwickelt haben, kaum noch existieren. Umso sensibler erzählt der Film von den Problemen und den sich andeutenden neuen Weisen der Selbstfindung.