- RegieDani Rosenberg
- Dauer98 Minuten
- GenreSpielfilm
- Cast
- TMDb Rating5/10 (5) Stimmen
Vorstellungen
Filmkritik
Shlomi (Ido Tako) läuft davon. Ob er die harte Realität des Militärdienstes nicht mehr aushält oder hauptsächlich von der Sehnsucht nach seiner Freundin Shiri (Mika Reiss) dazu getrieben wird, dem Einsatzort seiner Truppe im Gazastreifen zu entfliehen, bleibt offen. Fest steht, der junge Mann kann nicht mehr: Er verschwindet, taucht unter. Im Haus seiner Eltern findet er niemanden vor und so bricht er, seine Maschinenpistole umgeschnallt und in Uniform gekleidet, auf, um Shiri zu überraschen.
Diese arbeitet als Sous-Chefin in einem Nobelrestaurant von Tel Aviv, in dem der absurde Zustand dieser Stadt, die aus der andauernden Anspannung und der permanenten Bedrohungslage eine ungehemmte Lebenslust entwickelt, in den elaborierten Gerichten eine eigentümliche Form annimmt. In eben diese unter Anspannung gesetzte Lebenslust begibt sich Shlomi: Er will nicht einfach eine Funktion innerhalb der israelischen Gesellschaft sein, die gar nicht weiß, wie es ist, ohne den Nahostkonflikt zu leben. Wie kann ein junger Mensch einfach unbewehrt erwachsen werden, lieben und sich in den Intensitäten des Lebens verlieren?
In Israel ist dies mehr als kompliziert. Das große Thema des Coming-of-Age-Films wird in „Der verschwundene Soldat“ zu einer Frage der Existenz: Es geht um Leben und Tod, oder darum, wie ein Leben in einem permanenten Kriegszustand gelebt werden kann. Kann man die Leichtigkeit der schönen Dinge, ja darf man die Liebe genießen, wenn sie im Grunde genommen die Form einer trotzigen Verdrängung annimmt?
Die Geschichte einer Verweigerung
Über Nachrichtenbeiträge bricht der Gazastreifen, das Schicksal von Soldat:innen und palästinensischen Flüchtlingen in die Gegenwart von Tel Aviv ein. Ständig sind die Menschen gezwungen, eine Haltung zu Gaza einzunehmen. Mitunter ganz buchstäblich, nämlich dann, wenn der Raketenalarm ertönt und die Menschen in den Bunkern Schutz suchen, sich auf die Straße werfen und zusammenkauern. Einzig Shlomi kümmert sich darum nicht mehr. Er will keine Haltung mehr einnehmen. Er will nicht mehr müssen. Mit stoischer Gelassenheit ignoriert er die Raketen, deren Detonationen den Himmel erschüttern. Für ihn ist das nicht viel mehr als das Hintergrundrauschen jener Existenz, die er verlassen will.
So imaginiert er sich ein Leben mit Shiri – als fortgesetzte Flucht. Zuvor aber will er mit ihr schlafen, sie aber auch heiraten. Und vor allem will er sie davon abhalten, mit ihrer Familie nach Kanada auszuwandern: Schließlich gebe er ihr doch, ausgerechnet er, der gerade Desertierte, das Versprechen auf ein gemeinsames Leben in Israel. Shiri weiß nichts von der Fahnenflucht, für die eine harte Gefängnisstrafe droht. Sie glaubt an die Lügengeschichte der freien Tage.
Während sich diese zarte Illusion einer Liebesgeschichte entfaltet, glaubt das Militär, Shlomi sei von der Hamas entführt worden. Die Regierung intensiviert daraufhin die Angriffe auf Gaza. Shlomi muss begreifen, dass er nicht unschuldig aus der Sache herauskommen wird, sein Verschwinden nicht von Dauer sein kann. Als er gezwungen ist, sich seiner Mutter (Efrat-Ben Tzur) zu offenbaren, weil die Regierung die Eltern über die Entführung informiert, zwingt er diese in ein moralisches Dilemma. Er bürdet ihr eine Sorge um sein Leben auf, der sie nur begegnen kann, indem sie ihn wieder zurück nach Gaza schickt. Unter der Bedingung, er möge sich stellen, zur Truppe zurückkehren, willigt sie ein, ihn zu decken und die Geschichte der Entführung mitzuspielen. Für Shlomi aber beginnen die Probleme gerade erst.
Das komplexe Porträt einer Gesellschaft
Zwischen den beiden Polen eines Liebesfilms und eines politischen Dramas webt Regisseur Dani Rosenberg in „Der verschwundene Soldat“ ein komplexes, vielschichtiges Porträt der israelischen Gesellschaft, die in einer ebensolchen Bipolarität eingespannt ist: Der Sehnsucht nach Unbedingtheit (Liebe) steht immer eine tiefe existentielle Bedrohung gegenüber. Morgen schon kann es vorbei sein.
Rosenberg verarbeitet in seinem Spielfilm, den er seinem Debüt „The Death of Cinema and My Father Too“ folgen lässt, einen Teil der eigenen Biografie. Er selbst hat während seines Militärdienstes einen Fluchtversuch gewagt. Nach zwei Stunden ziellosen Umherirrens in der Wüste kehrte er allerdings wieder in das Camp zurück. Sein Fehlen wurde nicht einmal bemerkt. Diese Anekdote erzählt viel über die unbändige Energie von „Der verschwundene Soldat“. Rosenberg geht es um etwas. Der Film scheint ein Ausdruck des persönlichen Zweifels zu sein.
Einerseits steht der Regisseur der eigenen Regierung kritisch gegenüber, will – wie Shlomi – nicht am Zirkel der Gewalt partizipieren. Und doch fühlt auch er die existenzielle Bedrohung, die aufgestaute Wut, die Trauer und den Schmerz dieses Landes. Um damit umzugehen, legt er die Tonalität seines Films vielstimmig an. Da gibt es Momente der Komödie, die sich vor allem durch die Figur des Vaters (Shmulik Cohen) einen Weg in das Drama bahnen. Dieser trägt beinahe clowneske Züge, in denen eine spöttisch-trotzige Verteidigung der Menschlichkeit der Gewalt entgegengrinst. Eine Spielart des jüdischen Humors, wie man sie etwa aus Radu Mihăileanus großartiger und zutiefst erschütternder Tragikomödie „Zug des Lebens“ kennt, der interessanterweise auch mit der Figur der Illusion/Lüge spielt.
Wenn ein französisches Touristenpaar sich an Shlomis Fersen heftet, weil er deren Kleidung geklaut hat, hält die Groteske Einzug in den Film. Während die demente Großmutter eine dunkle Spur in das Vergessen legt und ohne es explizit auszusprechen, den Holocaust thematisiert. Shlomis „Roadtrip“ gleicht dem Versuch, sich von all diesen Haltungen, die all diese Figuren auf die eine oder andere Weise zu Israel einnehmen, zu entziehen.
Der Bezug zur Gegenwart
Gedreht wurde der Film vor dem furchtbaren, in seiner blinden Gewalt nicht fassbaren Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023. Seit diesem Tag ist die Welt eine andere. Ein Krieg ist ausgebrochen, der auf allen Seiten unzählige zivile Opfer gefordert hat. Muss „Der verschwundene Soldat“ nun im schmerzvollen Lichte des eskalierenden Konflikts gelesen werden? Ginge es dann überhaupt noch um den Film oder wechselte man damit nicht das Register?
Letztlich scheint es nicht angemessen, den Film aus der Zeit seiner Entstehung herauszulösen. Vielmehr sollte Rosenbergs Film in seiner Eigenzeit zur Geltung kommen und damit als eine Einladung zum Dialog über das Menschliche verstanden werden. „Der verschwundene Soldat“ ist auf keinen Fall als ein direkter Kommentar zum Nahostkonflikt zu lesen. Der Film erzählt von Menschen, die versuchen, ihr Leben zu leben. Das Leben im Sinne der Sisyphusarbeit, irgendwie eine Haltung zur Welt einzunehmen. Eben das ist Shlomis Schicksal: Er möchte nicht für einen Kampf einstehen, der ihn übersteigt. Er möchte jung sein dürfen. In Israel. Und diese Spannung gilt es auszuhalten.