- RegieMark Cousins
- Dauer90 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
- TMDb Rating5.6/10 (5) Stimmen
Vorstellungen
Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
„The Story of Film: An Odyssey“, eine 15-stündige Passage durch eine global gedachte Filmgeschichte, ist die vermutlich bekannteste Arbeit des schottischen Dokumentaristen Mark Cousins. Sein jüngster Film „The Story of Looking“ dauert zwar nur knapp 90 Minuten, erscheint in konzeptioneller Hinsicht aber noch ambitionierter. So expansiv und unergründlich das Kino auch sein mag, ist es doch nur ein Teil, ein letztlich verschwindend geringer Teil der (audio-)visuellen Welt. Das Sehen an sich greift in jeder Hinsicht – räumlich, historisch, physiologisch – wiet über das Kino hinaus.
Um das Thema handhabbar zu machen, nähert sich ihm Cousins in einer durchaus einleuchtenden Strategie aus einer hochpersönlichen Perspektive. Ob der Akt des Sehens immer in einem Individuum zu verorten ist, ist zwar eine offene Frage; in Zeiten der ungebremsten Proliferation technologisch vermittelter Blicke ist in dieser Hinsicht zumindest Skepsis angebracht. Zweifellos geht unser alltägliches Verständnis von Visualität jedoch immer noch vom Menschen und seinem Augensinn aus.
Wenn man die Augen geschlossen hält
So kann man sich zum Beispiel morgens im Bett nach dem Aufwachen fragen: Stehe ich jetzt auf, öffne das Fenster, schiebe die Gardinen auf und blicke in die Welt? Oder bleibe ich stattdessen liegen, im warmen, weichen Bett, umgeben von der Dingwelt meines Schlafzimmers, die mir so vertraut ist, dass ich sie gar nicht ansehen muss, dass ich vielleicht in der Tat die Augen erst einmal geschlossen halten kann?
Cousins entscheidet sich zu Beginn von „The Story of Looking“ für letzteres. Anders als er es gewohnt ist, wird er nach der Nachtruhe, nach dem Verlassen der Welt der Träume und ihrer Bilder, die nur ihm selbst gehören, nicht aktiv. Er begibt sich nicht auf die Suche nach neuen visuellen Eindrücken, weder in seiner Wohnstätte Edinburgh noch an anderen, weiter entfernten Orten; sondern er bleibt liegen, unter der Decke, adressiert die Kamera, die wiederum ihn selbst anblickt, und beginnt damit, eine „Story of Looking“ Revue passieren zu lassen, eine Geschichte, die gleichzeitig seine eigene und eine ihn überschreitende, vielleicht sogar universelle ist.
Wir leben alle in derselben Welt. Das ist die philosophische Position, von der Cousins auszugehen scheint, insoweit wie wir dieselbe Welt wahrnehmen und uns untereinander über diese Wahrnehmung verständigen können. Cousins’ Erinnerungen an sein erstes, frühkindliches Sehen, an ein Sehen, das sich noch nicht zu einer Welt zusammensetzt, sich stattdessen von einzelnen Farb- und Lichteindrücken leiten lässt, gehört zwar ebenfalls erst einmal nur ihm selbst. Dennoch ist es uns möglich, unsere eigenen visuellen Erinnerungen an die seinen anzuschließen.
Kinobilder gehören allen und niemand
Das Kino wird aus dieser Perspektive zu einem Medium der Verständigung, der Intersubjektivität. Wir Kinozuschauer:innen können uns in Cousins wiedererkennen, in seinem Blick, der durch die Kamera hindurch uns anschaut, in seinem unter der Bettdecke nackten Körper; und die anderen Bilder, die sich von Anfang an und bald immer nachdrücklicher zwischen die tagebuchfilmartigen Szenen im Schlafzimmer des Regisseurs drängen, gehören uns genauso gut wie ihm. Sie gehören, wie jedes Bild des Kinos, allen und niemand.
Geleitet von Cousins’ angenehm weicher, schottisch akzentuierter Stimme gleiten wir aus dem Schlafzimmer hinaus und hinein in die Welt des Sehens. Auf die Kindheit folgt die Jugend: Sehen und Begehren, Sehen und Sex. Später, neben vielem anderen, Sehen und Macht, Sehen und Moral, Nichtsehen als Amoral: der abgewendete Blick der Deutschen angesichts der Leichenberge in Auschwitz. Aber gibt es nicht auch die Angst vor dem bösen Blick?
Unerschöpflich ist die Geschichte des Sehens, das zeigt sich schnell, insbesondere weil im Hintergrund stets eine zweite Geschichte mitläuft: die Geschichte der Blindheit. Ganz am Anfang stehen Bilder des blinden Sängers Ray Charles, und auch Cousins selbst muss sich, erfährt man bald, demnächst einer nicht unriskanten Augenoperation unterziehen. Eine Bestandsaufnahme des Gesehenen im Angesicht eines möglichen Erlöschens des Blicks. Kein Wunder, dass einige der Seh-Bilder, die Cousins für uns sammelt, zum Elementaren, latent Kitschigen tendieren. Wasserfälle, Himmelblau, pickelige Jugendliche, die direkt in die Kamera schauen. Cousins scheut nicht die Klischees, bleibt aber glücklicherweise auch nicht ihr Gefangener.
Uns selbst beim Sehen zusehen
Schließlich, doch wieder: das Kino. Immer wieder montiert Cousins Filmklassiker in seinen Bilderfluss, „Persona“, „Vertigo“, „Citizen Kane“, aber auch „Romeo & Julia“ von Baz Luhrmann (die Aquariumsszene) und einige mehr. Die Filmgeschichte als eine zweite „Story of Looking“, als eine Reflexion unserer eigenen Blicke.
„Was wir sehen, blickt uns an.“ Auf diese Formel hat der Philosoph Georges Didi-Huberman seine „Metaphysik der Bilder“ gebracht. Vielleicht, legt Cousins nahe, ist die Sache noch ein wenig komplizierter: Im Kino sehen wir uns selbst beim Sehen zu.