Vorstellungen
Filmkritik
In einem vielfach adaptierten Wiegenlied, das höchstwahrscheinlich afro-amerikanischen Ursprungs ist, singt eine Mutter ihr Kind in den Schlaf. Nach dem Aufwachen, so das Versprechen, würde es „all die hübschen kleinen Pferde“ haben. In „Colonos“ von Felipe Gálvez Haberle ist das Lied als Übergang in den letzten Teil des Films zu hören, in einer kränklichen, fast schon morbiden, ätherisch schönen Version. Das von einer Mutter und ihren beiden Töchtern vorgetragene Lied „All the Pretty Horses“ dient hier der gepflegten Abendunterhaltung ihres Vaters beziehungsweise Großvaters, eines reichen Großgrundbesitzers, der sich an der Südspitze Patagoniens eine kleine Insel der „Zivilisation“ errichtet hat. Die Darbietung hat etwas leicht Perverses, denn der Großgrundbesitzer José Menéndez, eine auch als „König von Patagonien“ bekannte historische Figur, ordnete einige Jahre zuvor eine regelrechte Jagd auf die indigene Bevölkerung an. Er zahlte Prämien für bestimmte Körperteile und soll dabei auch im Londoner Anthropologischen Museum einen dankbaren Abnehmer gefunden haben. Vor diesem gewaltsamen Hintergrund entpuppt sich das Schlaflied als ein Totenlied.
Ein genozidales Projekt
„Colonos“ setzt sieben Jahre zuvor in Tierra del Fuego ein, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Doch bevor der eigentliche Film beginnt, leuchtet die Leinwand schon blutrot. In der Pampa sind einige Arbeiter, darunter auch der Halbindigene Segundo, unter der gnadenlosen Führung des schottischen Soldaten Leutnant MacLennan mit der Vermessung und Umzäunung des Weidelands beschäftigt, das Menéndez an sich gerissen hat. Als ein Arbeiter bei der Montage seinen Arm verliert, wird er von MacLennan kaltblütig erschossen.
Der chilenische Filmemacher Felipe Gálvez Haberle, der bisher vor allem als Editor gearbeitet hat, gibt schon mit den ersten Bildern seines Debütfilm den Ton vor: explizite Gewaltszenen, gepaart mit grandiosen Landschaftsaufnahmen einer riesigen, nahezu menschenleeren Prärie, eine finstere, wortkarge Stimmung, die man auch mit den Romanen von Cormac McCarthy verbindet – der wiederum das Schlaflied für seinen Romantitel „All the Pretty Horses“ adaptierte – und eine markante Farbpalette. Die gedeckten Erdtöne von Wüste und Steppe werden durch punktuell gesetzte Farben akzentuiert: die rote Jacke des Leutnants, die sich später als Offiziersjacke herausstellt, Menéndez’ kamelbrauner Schal, im Hintergrund der strahlend blaue Himmel.
Um seine umfangreichen Schafherden an den Atlantik zu transportieren, plant Menéndez den Bau einer neuen Straße. Ein Trio, bestehend aus dem Anführer MacLennon, dem US-amerikanischen Söldner Bill und dem Scharfschützen Segundo, soll dafür den Weg freiräumen, was nichts anderes als ein genozidales Projekt bedeutet. Eine Atmosphäre des Misstrauens bestimmt das Verhältnis der Männer. Bill, der durch seine Erfahrungen in Nordamerika eine gewisse Expertise für sich in Anspruch nimmt, etwa im Skalpieren, wittert in Segundo einen potenziellen Feind und versucht, MacLennon gegen ihn aufzustacheln. Als ehemaligem Militär ist dem der Söldner zutiefst zuwider; es ist eine geradezu „natürliche“ Aversion, die in dem Satz „Sailors and cowboys. We’re not the same animals“ auf eine einfache Formel gebracht wird. Segundo, der „Mestizo“, ist so etwas wie das Auge des Films, ein meist stummer Beobachter des Geschehens, aber – und das ist das eigentlich Verstörende an „Colonos“ – keinesfalls außenstehend. Seine angedeutete Zerrissenheit hält ihn nicht davon ab, sich an einem brutalen Überfall auf Indigene zu beteiligen.
Bildgewaltiger Film in vier Kapiteln
Der Film bewegt sich, je weiter die Männer ins Land vordringen, mehr und mehr in den gewalttätig-fiebrigen Raum einer Conrad’schen Finsternis hinein. Ein Massaker im dichten Nebel endet mit der Vergewaltigung einer gerade noch so lebenden Frau. An der Küste angelangt, kommt es zu einer Begegnung mit einer von einem Colonel angeführten Truppe; MacLennon muss nun seinerseits die animalischen Seiten des Menschen am eigenen Leib erfahren.
Felipe Gálvez Haberle strukturiert den bildgewaltigen Film in vier Kapitel und unterlegt ihn mit einem druckvollen Score aus tribalistischem Getrommel und raspeligen Streicherklängen. Reduktion und Effekt, Mystizismus und Aufklärung, südamerikanischer Western und postkoloniale Erzählung halten sich gerade so die Waage.
Im letzten Teil macht sich ein Politiker an die Aufarbeitung der Kolonialverbrechen und stößt dabei auf verschiedene Versionen der Geschichte. Aber auch er verfolgt in dem nach dem Grenzstreit zwischen Chile und Argentinien neu geordneten Nationalstaat eigene propagandistische Interessen. Seine Waffe ist nicht das Gewehr, sondern eine Filmkamera. Am Ende steht die Verweigerung einer Geste. Auf den Bildern der Archivfilme aus dem kolonialen Chile, die im Abspann zu sehen sind, mag davon nichts mehr lesbar sein; umso wichtiger aber erscheint es, diesen Akt des Widerstands im Kleinen zu bezeugen.