Vorstellungen
Filmkritik
Eine schottische Legende erzählt davon, dass sich Menschen, die im Meer ertrinken, in Seehunde verwandeln. Wenn sie gefangen werden, betreten sie das Land als schöne Menschen, werden dort aber nicht glücklich. Ist Rona (Saoirse Ronan) vielleiht so ein Hybrid – halb Meeres-, halb Landwesen –, das nirgends zurechtkommt? Die junge Frau stammt eigentlich von den Orkney-Inseln im hohen Norden von Schottland, wo Atlantik und Nordsee aufeinanderprallen. Dort weht ein rauer, heftiger Wind, der die Wellen bei Sturm meterhoch an die Küsten peitscht und sie überflutet. Außer Schafzucht kann man hier nicht viel betreiben.
Nach dem Ende ihrer Schulzeit zieht Rona nach London, weit weg von ihrer Heimat. Sie studiert in der englischen Hauptstadt, feiert aber auch ausgelassen. Wobei letzteres Wort ein Euphemismus dessen ist, woran sie bald tatsächlich leidet. Denn Rona lässt nicht nur ihre Lebensfreude im Kreise gleichgesinnter Freunde aus, sondern trinkt buchstäblich bis zum Umfallen. Häufig verweigern ihr die Barkeeper spät nachts weitere Drinks, und manchmal wird sie nach destruktiven, selbstverletzenden Exzessen unsanft auf die Straße gesetzt. Ihr Freund () kann mit der Situation irgendwann nicht mehr umgehen und verlässt sie. Doch erst nachdem sie nach einem Trinkgelage von einem Mann misshandelt und fast vergewaltigt worden ist, zieht sie die Reißleine. Sie wendet London den Rücken zu und kehrt nach Orkney zurück.
Ein zerrissenes Leben
Es ist nicht leicht, die Chronologie des Films von Nora Fingscheidt herauszufinden. Denn er ist alles andere als linear erzählt und springt zwischen den Szenen in London und auf zwei Orkney-Inseln hin und her. Die Szenen reihen sich bruchstückhaft aneinander. Grelle Ton- und Bildeffekte in London, die Ronas rauschhafte Zügellosigkeit in Bars oder auf Partys bebildern, wechseln sich mit mal beruhigenden, mal aufwühlenden Bildern schottischer Landschaften ab. Ruhe findet die Heldin auch an den menschenleeren Stränden und auf Feldern der Insel(n) erst allmählich.
Schon in „Systemsprenger“ hat die Regisseurin eine Protagonistin ins Zentrum gestellt, die durch alle Raster fällt. Auch Rona leidet an einer in der Gesellschaft ignorierten – und tabuisierten – Krankheit. Lange Zeit bekommen selbst ihre Freunde von ihrer Alkoholsucht nichts mit, und auch die Zuschauer wissen anfangs nicht, ob Ronas Rauschepisoden nur temporäre Exzesse sind. Der Film ist eine Adaption des autobiografischen Buches „The Outrun“ von Amy Liptrot, die auf den Orkney-Inseln aufwuchs und darin ausführlich ihre Alkoholabhängigkeit schildert.
Erst im Laufe des Films verdichten sich die Indizien für ihre Sucht, bis hin zu einem handfesten Beweis: die im Badezimmer versteckte Flasche mit hochprozentigem Inhalt. Das Problem wird, nachdem sie in körperliche, womöglich sogar lebensbedrohliche Gefahr gerät, auch von ihr endlich beim Namen genannt. Davor fiel Rona in die bekannten Muster von Suchtkranken. Sie verdrängte und verheimlichte, doch irgendwann ließ sich ihre Sucht nicht mehr verbergen. Ständig scheint die junge Frau auf der Flucht zu sein, die Saoirse Ronan mal ohne jegliche Inhibition, dann wieder einsam und verzweifelt spielt. Ihre Kindheit wurde durch gewaltsame Ausfälle ihres bipolaren Vaters und der damit korrespondierenden extremen Frömmigkeit ihrer Mutter getrübt. Dass die Tochter daraufhin türmte, lässt sich unschwer nachvollziehen.
„The Outrun“ macht aber auch deutlich, dass Rona nur von ebenfalls Betroffenen Verständnis erfährt. In Anonymen-Alkoholiker-Treffen tauschen sie sich aus, machen sich gegenseitig Mut und sogar Scherze über ihre Krankheit. Auch einander nur flüchtig Bekannte erkennen sich in anderen wieder. Denn die Sucht ist nicht heilbar, nur beherrschbar. „Es wird nie einfach, nur weniger schwer“, sagt ein trockener Alkoholiker zu Rona auf der Insel. Die Tage von Ronas Trockensein werden regelmäßig auf der Leinwand eingeblendet, avancieren allmählich zur dreistelligen Zahl – bis durch einen erneuten Absturz alles wieder von vorne beginnt.
Die Sucht erscheint als Naturgewalt
Die Sucht erscheint wie eine Naturgewalt – wie die rauen Inseln, auf denen Rona Zuflucht sucht. Nachdem sie erneut vor ihren Eltern flüchtet, bei denen sie Unterschlupf gefunden hat, ergattert sie auf einer anderen Orkney-Insel einen ungewöhnlichen Job: Sie soll das Singen des Wachtelkönigs dokumentieren und erkunden, ob es diese Spezies auf der Insel überhaupt noch gibt. Das Hineinhorchen in die Natur zeitigt eine beruhigende Wirkung. Die Einsamkeit lässt Rona innehalten und ihre Situation reflektieren.
Die Kontraste zwischen leise und laut, bevölkert und menschenleer illustriert der Film zuweilen überdeutlich und gerät dabei manchmal in überschwängliches oder zu symbolhaftes Fahrwasser. Verfremdende und poetische Exkurse bieten die mythischen Seehunde, während die von der Protagonistin zitierten Statistiken ihre rationale Seite betonen. Denn Rona ist Naturwissenschaftlerin; sie schreibt eine Doktorarbeit über Seetang. Dass Sucht und mentale Probleme ebenfalls von Statistiken erforscht werden und Abhängige trotz allem Bemühen scheitern können, wird ebenfalls klar. Doch es gibt Hoffnung für die tapfere und anrührende Heldin, und die möchte ihr niemand verwehren.