- RegieThomas Cailley
- ProduktionsländerFrankreich
- Produktionsjahr2023
- Dauer128 Minuten
- GenreDramaAbenteuerScience FictionFantasy
- AltersfreigabeFSK 12
- IMDb Rating7.2/10 (2079) Stimmen
Cast
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Filmkritik
Vielleicht ist es die Kino-Hegemonie der Superhelden, zu der sich Filmemacher aus dem Arthouse-Bereich positionieren wollen, vielleicht auch einfach das altbekannte Unbehagen gegenüber jeder neuen Generation, die heranwächst und bislang ungekannte Forderungen an die Welt der Erwachsenen stellt. Sicher ist, dass europäische Filmschaffende in den letzten Jahren erstaunlich oft junge Menschen mit ungewöhnlichen, manchmal sogar übernatürlichen Fähigkeiten ins Zentrum ihrer Filme gestellt haben. Ob sie nun telekinetische Kräfte entwickeln („Thelma“, „The Innocents“), zu Kannibalen werden („Raw“, „Bones and All“), besondere Sinne ausbilden („The Five Devils“) oder sich gleich in eine ganz andere Art von Lebewesen verwandeln („Blue My Mind“, „Titane“) – in jedem Fall erwächst ein Horror aus neuen Körpern und einer neuen Haltung zur Welt. Die Protagonisten werden anders – oder stellen fest, dass sie anders sind – und gehören fortan nicht mehr dazu.
Es bricht aus, was verborgen lag
„Animalia“ von Thomas Cailley reiht sich in diese neue Tendenz im Gegenwartskino ein. Der zweite Spielfilm des französischen Regisseurs präsentiert eine Welt, in der sich Menschen durch eine neuartige Krankheit in Tierwesen verwandeln. Auch die Mutter des Sechzehnjährigen Émile (Paul Kircher) ist davon betroffen und wird unter staatliche Obhut gestellt. Sein Vater François (Romain Duris) versucht, ihm ein halbwegs gewöhnliches Leben zu ermöglichen, und zieht mit Émile in eine neue Gemeinde im Süden des Landes – ganz in der Nähe der neuen Auffangstation. Doch genau wie Mutter Lana bald ihrer Gefangenschaft entkommt, bricht auch das aus, was in Émile verborgen lag. Aus seinen Händen sprießen Klauen. Plötzlich sind Haare, wo vorher keine waren und normalerweise auch niemals so viele wachsen. Neue Kräfte und neues Verlangen bestimmen sein Leben.
Cailleys Film bietet Hybrid-Kino über Hybrid-Wesen. Genau wie Menschen plötzlich Tierisches an sich erkennen, wachsen Science-Fiction- und Horror-Elemente mit den visuellen und dramatischen Konventionen des zeitgenössischen Arthouse-Kinos zusammen. Eine sachte zitternde Handkamera wie bei den Werken der Dardenne-Brüder hält Szenen fest, die auch in einem „X-Men“-Film nicht fehl am Platz wären. Natürlich werden nicht die Dimensionen des Blockbuster-Kinos angestrebt, in Südfrankreich fehlen die Skylines, um dem Zerstörungswahn des Genres Genüge zu tun. Aber wenn zu Beginn des Films ein Vogelwesen vor seinen Verfolgern durch einen langen Stau flieht, dann verweisen diese Bilder auf Genre-Erzählungen, die ungemein vertraut sind.
Beziehung zwischen Außenseitern
Émile versucht sich in das Gefüge seiner neuen Schulklasse einzufügen. Er ist eigentlich ein extrovertierter, charmanter Junge, aber seine Verwandlung lässt ihn Zähne auf Mensa-Tische spucken und Frettchen anbrüllen. Wie bei dieser Art von Film üblich gibt es einzelne Altersgenossen, die ihn im Kreis der gewöhnlichen Gesellschaft halten. In diesem Fall ist das vor allem Émiles Klassenkameradin Nina (Billie Blain), durch ihre ADHS selbst eine Außenseiterin. Es entsteht eine zarte Beziehung, basierend auf der gemeinsamen Randständigkeit. Sie wird eine Zwischenfigur, neben seinem Vater bald die letzte Mittlerin zwischen ihm und der Menschenwelt.
Die neuen fantastischen Jugendfilme europäischer Herkunft brauchen diese Art von Beziehung, weil sie gesellschaftlichenAusbrüche meist mit dem sexuellen Erwachen in Beziehung setzen. Routiniert begleiten sie Übergangsriten wie die erste Party und das „erste Mal“. Die Filme sind ungemein körperfixiert und beziehen sich oft explizit auf den Body-Horror eines David Cronenberg. In „Animalia“ reißt Émile eine Klaue, die unter seinem Fingernagel wächst, gewaltsam heraus. Blut spritzt auf seinen Spiegel. Eine Szene, die fast exakt so in Cronenbergs „Die Fliege“ von 1986 stattfindet. Und auch das Motto „Long live the new flesh!“ aus „Videodrome“ prägt diese Filme, die oft spürbar auf der Seite der verwandelten Jugendlichen stehen. Ihre Andersartigkeit kann, aber muss nicht in der Katastrophe enden, sondern erweist sich in der Regel als Ausbruchsmöglichkeit und wird in vielen Fällen queer konnotiert.
Die unangenehmen Pausen der Jugend
Cailley hat ein besonderes Gespür für die unangenehmen Pausen der Jugend. Für das ungelenke Stolpern der Gespräche zwischen Teenagern und Erwachsenen, die immer wieder ihre Perspektive justieren müssen, um einander wirklich zu verstehen. Aber auch für die schmerzlichen Leerstellen, die zwischen jungen Liebenden entstehen, die sich in Herzensdingen auf Terra incognita begeben. Im Schildern zwischenmenschlicher Kleinteiligkeit ist er deutlich erfolgreicher als in der Kreation umfassender Gesellschaftstableaus. Sein Entwurf des fantastischen Szenarios wirkt skizzenhaft, der Eindruck von der neuen Gesellschaft und ihrem Umgang mit den Tierwesen bleibt vage. Die Polizei rund um die engagierte Julia (Adèle Exarchopoulos) fahndet nach den Ausgebrochenen, eigentlich harmlose Bürger rotten sich zur gewaltbereiten Bürgerwehr zusammen. Aber was das politisch und sozial bedeutet, oder wie die Beziehung zwischen Mensch und Tier neu verhandelt wird, bleibt weitestgehend unklar.
Die Gegenwelt der Verwandelten wird vor allem durch eine weitere Hybridisierung dargestellt. Der Film greift umfassend auf CGI-Effekte zurück, um seine Tierwesen darzustellen. Insbesondere der Vogelmensch Fix (Tom Mercier), eine Art großer Bruder und Wegbegleiter für Émile, gleitet als Computerschöpfung durch die Lüfte. So hadert „Animalia“ auch mit der Transformation von menschlichen Körpern in post-physische Datensätze. Bei Cailley ist es zumindest noch kein reines Einverleiben, sondern noch eine Verschmelzung „auf Augenhöhe“. Die Ästhetik bleibt unbeständig, die Effekte erzählen vom kommenden Verfall der Körperhülle.
Viele Songs gleichzeitig
„Animalia“ hat sich selbst nicht völlig in etwas klar Bestimmbares verwandelt. In einer Szene spielt Nina Émile etwas auf der Tuba vor. Sie ist nicht besonders gut, die angestrebte Melodie kann man eher erahnen als wirklich hören. Sein Feedback ist diplomatisch: „Es erinnert mich an viele Songs gleichzeitig.“ Ein Urteil, das auch zu „Animalia“ passt. Wo die Töne nicht genau getroffen werden, entsteht eine vage Annäherung an die Pop-Klänge, die ohnehin in der Luft liegen.