Vorstellungen
Filmkritik
Mitten in der Nacht ist die Maschine gelandet – offenbar im VIP-Bereich eines Flughafens. Ein halbes Dutzend schwarze Limousinen steht am Fuße der Gangway bereit, dazu die Fahrer, alle in schwarzen Anzügen. Eine katarische Familie mit ihrer gesamten Entourage, also inklusive Verwandtschaft, Angestellten und Bediensteten, ist nach Deutschland gekommen, weil das Familienoberhaupt, der Scheich, medizinische Untersuchungen vor sich hat. Mit Unmengen von Gepäck wird die riesige Suite eines Luxushotels bezogen. Die Chauffeure müssen sich ständig bereithalten – deutsche Arbeitsgesetze hin oder her –, um die Familie durch die Gegend zu kutschieren. Daniel ist einer von ihnen, und er bekommt den Auftrag, die Lieblingstochter des Scheichs zu fahren: Naadirah, aufgewachsen in einem Schweizer Internat – eine hoch gebildete, junge Frau, die sich wenig um Konventionen zu kümmern scheint. Daniel und Naadirah kommen sich näher. Doch als sich herausstellt, dass Naadirahs Vater umgehend operiert werden muss, wird Naadirahs geplante Heirat vorverlegt.
In dem kleinen, beinahe unauffälligen Melodram „Tage mit Naadirah“ sind viele interessante Themen verpackt, und zwar erfreulicherweise, ohne dass der Film dadurch überladen wirken würde. Das zeugt vom handwerklichen Können der Regisseurin Josephine Frydetzki und ihrer Co-Autorin Gisela Wehrl und von ihrem intellektuellen Feingefühl. Hier gibt es keine simplen, wenn auch naheliegenden Aussagen à la „Geld regiert die Welt“, „Das Leben ist kurz“, oder „Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss.“ Im Gegenteil.
Einfach mal aus dem Alltag ausbrechen
Zunächst geht es um eine Amour fou – zwischen Daniel und Naadirah, die sich näher kennenlernen, obwohl es ihnen eigentlich verboten ist. Daniel darf laut Dienstanordnung seinen weiblichen Fahrgästen nicht einmal in die Augen schauen. Die selbstbewusste Naadirah interessiert das nicht. Ihre chevalereske Einstellung zum Leben und zum Amüsement wird dadurch erleichtert, dass sie Geld wie Heu hat. Dennoch fügt sie sich prinzipiell den Regeln der Familie sowie den religiösen und kulturellen Vorgaben, von denen sie geprägt ist. Das hat manchmal etwas Scheinheiliges, auch wenn Naadirah den Verdacht der Bigotterie empört von sich weisen würde. Vielleicht würde sie sagen, dass sie einfach gerne mal aus ihrem Alltag ausbricht und das ja nicht gleich jeder erfahren muss.
Naadirah ist kapriziös und frivol, und sie weiß es. Kenda Hmeidan spielt das sehr gut, so wie sie überhaupt ihre Rolle mit sensibler darstellerischer Präsenz ausfüllt – anmutig und lebhaft wie ein bunter, flirrender Kolibri, dann wieder still und in sich gekehrt. Sie zeigt Naadirah in der Ambivalenz einer selbstbewussten, aber in den Dingen des Lebens noch unerfahrenen Tochter aus reichem Haus, aber auch in der Experimentierfreude einer jungen Frau, die wissen will, wie sie Männer beeindrucken kann. Ob sie sich wirklich in Daniel verliebt hat, ob sie ihn nur provoziert, ob sie mit seinen Gefühlen spielt, ob sie es nochmal so richtig krachen lassen will – all das ist möglich. Aber trotz ihrer westlichen Kleidung und progressiven Ansichten: Wenn sie verheiratet werden soll, gehorcht sie ganz selbstverständlich. Die Frage, ob sie ihren Ehemann liebt, stellt sich nicht.
Daniel hat seine Ideale verloren
Doch hier geht es um mehr als um eine unmögliche Love Story im üblichen Sinn. Es geht auch und vor allem um den Mann Daniel und um das, was er sich für sein eigenes Leben wünscht. Daniel hat seine Ideale verloren, er wollte mal Philosoph und Schriftsteller werden. Das ist nicht mehr aktuell. Stattdessen lässt er sich von seinem Schwiegervater in spe herumschubsen. Frank (angemessen fies: Christian Kuchenbuch) ist der personifizierte Kapitalismus. Er treibt seine Angestellten, auch seine Tochter, gnadenlos an, will alles kontrollieren und ist, ähnlich wie Naadirahs Vater, ein autoritärer Patriarch. Sein Einsatz für die Gäste aus Katar wird von schierer Geldgier geleitet. Doch Daniel tut, was er sagt. Auch weil Frank der Vater seiner Zukünftigen Jenny ist. Mit ihr wünscht sich Daniel das kleine private Glück. Die beiden wollen zusammen ein Haus kaufen, möglichst noch, bevor Jennys kleiner Sohn in die Schule kommt.
Daniel gibt sich alle Mühe, es Jenny und ihrem Kind recht zu machen. Aber irgendwie scheint er immer unglücklicher zu werden. Dabei hätte er doch alle Möglichkeiten … oder etwa nicht? Welche Chancen hat ein Mann mit guter Schulbildung und guten Ideen in dieser Welt? Die ist bei Josephine Frydetzki kalt, düster und nahezu menschenfeindlich, dominiert von High-Tech-Bauten. In dieser Welt ist kein Platz für Zweifler, diese Welt braucht selbstsichere Kerle, die wissen, was sie wollen. Daniel ist keiner von ihnen und alles andere als ein Held. Christoph Humnig spielt ihn als leicht melancholisch angehauchten Softie, einer von diesen Typen, die lieber alles mit sich machen lassen, als selbst aktiv zu werden. Was ihn mit Jenny (taff und pragmatisch: Katharina Bach) verbindet, außer dass sie beide im Unternehmen ihres Vaters arbeiten, bleibt unklar. Sie scheint ganz selbstverständlich davon auszugehen, dass sie beide dieselben Vorstellungen von der Zukunft haben. Dabei merkt sie nicht, dass Daniel sich eigentlich in einer Lebenskrise befindet, gefangen zwischen seinen eigenen Erwartungen und denen der anderen. Ein Mann, überfordert von den Möglichkeiten, der nicht weiß, was er tun soll, und deshalb gar nichts macht; aus Angst, etwas Falsches zu tun.
Draußen die dunkle Welt
Daniels Hände am Lenkrad in Großaufnahme, hinter ihm Naadirah im Fond und draußen die dunkle Welt – dieses melancholische Bild steht am Anfang des Films, und es begleitet beinahe die gesamte Handlung. Er sagt, er habe sich alles selbst ausgesucht, und bei ihr sei alles vorgegeben. Doch innerhalb ihres Käfigs habe sie alle Freiheiten. Was aber bleibt für ihn? Was macht er aus seiner Freiheit und seinem Leben? Hat er überhaupt eine Vorstellung von dem, was er will? Mit seinen Zweifeln ist er bei Naadirah genau richtig. Sie zieht die Fäden, macht ihn zu ihrer Marionette – und er tanzt.