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Filmkritik
Sich als Spielfilmmacher in die Milieus der Ärmsten zu begeben, birgt große Risiken. Allzu leicht könnte die inszenierte Story als „Armutsporno“ wahrgenommen werden, könnten die in Sack und Asche gehenden Schauspieler verkleidet wirken, das ganze Unterfangen nicht auf Augenhöhe mit den real Betroffenen erscheinen. Die libanesische Regisseurin Nadine Labaki hat das Problem in „Capernaum“ für sich gelöst, indem sie ihre intensiv recherchierte Story fast dokumentarisch anlegte und die Figuren weitgehend von Laiendarstellern spielen ließ. Und „Die Liebenden von Pont-Neuf“, an den man unwillkürlich denken muss bei „Unter den Sternen von Paris“, weil es in beiden Filmen um an der Seine lebende Obdachlose geht, war so expressiv und impulsiv und wild, dass er eine Art eigene Kategorie bildet. Eine weitere Verbindung zwischen den französischen Produktionen gibt es durch das verwendete deutsche Liedgut: In „Die Liebenden von Pont-Neuf“ ist es Mahlers „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, in „Unter den Sternen von Paris“ Schuberts „Der Leiermann“. Auch spielen in beiden Filmen brennende Fotos der Liebsten eine Rolle – was man als Hommage von Claus Drexel an den Kollegen Léos Carax verstehen kann.
Drexel, Regisseur und zusammen mit Olivier Brunhes auch Co-Autor von „Unter den Sternen von Paris“, wählt einen anderen Weg als seine Kolleg*innen: Anders als Labaki setzt er nicht auf naturalistische Aufnahmen, sondern auf betont klare, sorgfältig arrangierte Bilder. Und so wie Léos Carax greift er zwar zu teils märchenhaften und poetischen Elementen – aber nur auf der Bildebene. In inhaltlicher Hinsicht bleibt er sehr ernsthaft der Situation von Obdachlosen und Flüchtlingen verpflichtet, wenn auch mit einem relativ optimistischen Blick auf die Mitmenschlichkeit der Figuren, auf die seine zentralen Protagonisten treffen.
Die Abgehängten, für die sich sonst nicht viele interessieren
So wie Nadine Labaki haben auch Drexel und Brunhes intensiv recherchiert, kennen sich spürbar aus etwa bei den (Nicht-)Orten, an denen all die Menschen im Abseits ihre improvisierten Schlafstätten aufschlagen. Mit „Au bord du monde“ hatte Claus Drexel 2012 bereits einen Dokumentarfilm über Obdachlose veröffentlicht. 2016 dann drehte er mit „America“ eine (2018 erschienene) Doku über Trump-Anhänger, als die meisten diese Gruppe noch nicht wirklich auf dem Schirm hatten. Den in Deutschland geborenen Regisseur interessieren die sogenannten „Abgehängten“, die, für die sich sonst eben nicht viele interessieren.
So ist zu begrüßen, dass Drexel nun eine Obdachlose und einen Flüchtlingsjungen ins Zentrum eines Spielfilms stellt und damit vernachlässigte Gruppen sichtbar werden lässt. Erschütternd sind die Bilder von langen Reihen kleiner runder Zelte, die in Schächten oder Tunnels, unter Autobahnbrücken, an Kanälen oder Straßenrändern stehen. In diesen (real existierenden) Pariser Zeltstädten leben Hunderte Flüchtlinge, unter menschenunwürdigen hygienischen Bedingungen, oft in der steten Angst vor Abschiebung.
Zumindest in derlei Hinsicht hat Christine nichts zu befürchten: Die ältere Dame ist Französin und lebt auf der Straße; immerhin kann sie nachts in einem Kabuff zwischen Seine und Zuggleisen schlafen, das ihr ein Mitarbeiter der Stadt heimlich zur Verfügung stellt. Was sie in die Obdachlosigkeit geführt hat, bleibt offen. In ihrem früheren Leben war sie Naturwissenschaftlerin und hatte einen Mann sowie einen kleinen Sohn, die sie wohl – bei einem Hausbrand? – verloren hat. Mehr erfährt der Zuschauer nicht. Die einzelgängerische Frau lebt zurückgezogen, hält höchstens mal pfeifende Zwiesprache mit einem Singvogel.
Eine neue Aufgabe als Beschützerin
In einer Winternacht steht der etwa 8-jährige dunkelhäutige Suli vor dem Unterschlupf der Frau, frierend, ohne ein Wort Französisch zu beherrschen. Ihrem ersten Impuls, den Jungen zu vertreiben, bleibt Christine nicht lange treu, nimmt ihn für eine Nacht auf. Und wird das aus Burkina Faso stammende Kind fortan nicht mehr los, will das auch bald gar nicht mehr. Die Obdachlose beschließt, nach Sulis Mutter zu suchen, in den Flüchtlingslagern, am Abschiebegefängnis und am Flughafen. Die neue Aufgabe lässt Christines Augen leuchten, auch wenn ihrem vom Straßenleben alt gewordenen Körper die Strapazen anzusehen sind.
Catherine Frot spielt das gut und angemessen verschroben, lässt in ihrem Gesicht die diversesten Nuancen aufblitzen, zwischen Verbitterung, Angst, Erschöpfung, Zuneigung und Mütterlichkeit. Und doch fällt es schwer, ganz und gar zu vergessen, dass da ein Star wie Catherine Frot eine Obdachlose gibt – unbekanntere Darsteller oder auch Laien wären einfach „unbelasteter“ im Angesicht von derlei herausfordernden Rollen. Was belegt wird durch den wirklich überzeugenden Mahamadou Yaffa als Suli.
Der Film hält trotz seiner anrührenden Geschichte eher auf Distanz; versucht den sentimentalen Gehalt der Story vom verlorenen Kind und seinem unverhofften Schutzengel nicht über Gebühr auszuschlachten. Das ist zwar nachvollziehbar und löblich, und kreiert auch überzeugende Momente der Fremdheit zwischen der an die Einsamkeit gewöhnten Alten mit dem meckernden Lachen und dem aus einem ganz anderen Kultur- und Sprachraum stammenden kleinen Jungen. Die eher kühle Machart erschwert aber natürlich auch die Identifikation und gibt dem Film in seinem Bemühen, nicht mit Emotionen zu überwältigen, den Charakter einer etwas künstlichen Versuchsanordnung. Momente der Nähe zu den Figuren entstehen nur punktuell.
Nüchterne Erzählweise mit märchenhafter Poesie
Man merkt dem Film eine gewisse Zerrissenheit an in seinem Bestreben, die realistisch-harte Story eher nüchtern, jedoch versetzt mit einer gewissen märchenhaften Poesie, die sich aus den schönen, präzise kadrierten Bildern und den Begegnungen mit anderen Figuren speist, zu erzählen. So richtig geht das Konzept nicht auf. In seiner tiefen Menschlichkeit und seinem Vermögen, die Aufmerksamkeit nachhaltig auf die Menschen am Rande der Welt – eben „au bord du monde“ – zu lenken, aber hat „Unter den Sternen von Paris“ ganz klar seine Meriten: Man wird in Zukunft mit einem anderen Blick auf die dort sitzenden und liegenden Vagabunden und Heimatlosen durch die Großstädte laufen.