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Filmkritik
Wenn man sich die Berlinale-Rezensionen zu „Sonne und Beton“ anschaut, fallen positiv gemeinte Beurteilungen wie „rau“, „authentisch“ und „schonungslos“ auf. David Wnendt hat den autofiktionalen Roman des Poetry-Slammers Felix Lobrecht verfilmt, der in der Neuköllner Gegend Gropiusstadt aufwuchs und von seiner Jugend in dem Berliner Problemviertel erzählt. Doch kann man als außenstehender Filmemacher ein sozial benachteiligtes Milieu mit gestylten Bildern, schnellen Schnitten und einem mit Dutzenden „Gangsta“-Songs gespickten Soundtrack fiktional darstellen, ohne dass dabei etwas falsch klingt?
Als Alter Ego von Lobrecht fungiert der 15-jährige Lukas (Levy Rico Arcos), der mit seinen Freunden im Hitzesommer des Jahres 2003 in Gropiusstadt abhängt und von Mädchen und tollen Klamotten träumt. Die Realität ist indes weniger traumhaft. Weil Lukas seinen Schülerausweis nicht dabeihat und am Eingangstor seiner Schule abgewiesen wird, verbringt er den Tag draußen und trifft bald auf seine ebenfalls die Schule schwänzenden Freunde: den sensiblen Gino und den Wichtigtuer Julius, der vorschlägt, im Park etwas Gras bei türkischen Dealern zu kaufen.
Dabei geraten sie mit einer arabischen Dealer-Gang aneinander. Lukas wird, weil er es angeblich an „Respekt“ hat mangeln lassen, nach Strich und Faden verprügelt. Drei Viertel des Films über sieht man ihn mit ramponiertem Gesicht auf der Leinwand, was viel über innere Verletzungen aussagt, von denen seine Freunde ebenfalls ein Lied singen können.
Der Klügere tritt nach
Lukas’ Mutter ist tot. Er wächst mit dem kleinen Bruder, der Stiefmutter und seinem arbeitslosen Vater (Jörg Hartmann) auf, der auch aus Gropiusstadt stammt, die Regeln der Straße aber nicht mehr durchschaut. „Der Klügere gibt nach“, schärft er seinem Sohn ständig ein, der das Motto allerdings schon längst als „Der Klügere tritt nach“ erkannt hat.
Dabei ist Lukas kein Schläger. Im Deutschunterricht schreibt er wortgewandte Aufsätze, gerät aber bald wider Willen in einen Strudel aus Einschüchterung und Gewalt. So soll er der Park-Gang ein Schutzgeld von 500 Euro zahlen. Dabei können ihm auch die Freunde nicht helfen. Gino (Rafael Luis Klein-Hessling) und seine Mutter werden von seinem alkoholsüchtigen Vater tyrannisiert, weshalb der Junge Geld spart, um mit der Mutter nach Italien auszuwandern. Der junge Möchtegern-Casanova Julius (Vincent Wiemer) lebt ohne Eltern bei seinem kriminellen Bruder. Und der Neue in der Clique, Sanchez (Aaron Maldonado Morales), stammt aus dem östlichen Stadtteil Hellersdorf und wird von seiner couragierten, aber alleinerziehenden Mutter aufgezogen; zu dem aus der Karibik stammenden Vater besteht kein Kontakt.
Im Laufe der Handlung müssen sich Lukas und seine Freunde vor ihren selbsternannten Gläubigern verstecken, bis ihnen eine Idee kommt. Die Jungs wollen die neuen Computer der Schule klauen, um damit ihre Geldprobleme zu lösen und sich auch mal etwas zu gönnen. Der dilettantisch ausgeführte Diebstahl und die schlampige Lagerung der Beute bringen weitere Probleme mit sich, sorgen aber für ein paar inszenatorische Highlights.
Konzentration auf das Milieu
Hier wird wahre Spannung erzeugt, was zwar auch in anderen Szenen der Fall ist, doch es gelingt erstmals, neben ein wenig Komik eine Eskalation der Lage und auch eine Fallhöhe für die Figuren zu vermitteln. Auch die Einbettung in das Deutschland der frühen 2000er-Jahre, als das simple Nokia-Handy oder MP3-Player als technische Errungenschaften galten, gelingt dem Film. Dass man außer Gropiusstadt keine weiteren Berlin-Bilder sieht, ist eine gelungene Konzentration auf das Milieu und eine willkommene Abwechslung von den wohlfeilen Panoramabildern der Stadt.
Dennoch ist Gropiusstadt nicht die Bronx oder ein anderes US-amerikanisches Ghetto. Hier geht es mitunter brutal zu, aber es wird nicht zügellos gemordet, das macht der Film klar. Ein sozialer Aufstieg aus dem Viertel ist dennoch schwierig, und Gewalt und Trunksucht vererben sich in manchen Haushalten von Generation zu Generation.
Der Alltag zerrütteter Familien wird ausführlich geschildert, doch da konsequent aus der Perspektive der jugendlichen Helden gefilmt wird, schwingt in diesem krampfhaft auf Tempo gemachten Film, der den Figuren und Zuschauern keinerlei Ruhepause gönnt, immer auch ein wenig Abenteuer mit.
Etwas mehr Kontext hätte gutgetan
Man kann von einem Film wie „Sonne und Beton“ keine soziologische Tiefenanalyse erwarten, doch etwas mehr Kontext und auch das Aufzeigen von Ursachen hätten gutgetan. Zwar ist es verständlich, dass die Konsumgesellschaft Begehrlichkeiten nach Wohlstand weckt, doch die jugendlichen Protagonisten verfügen sehr wohl über einen Wertekanon. Auch ein fürs Multiplex-Kino inszenierter Film wie „Sonne und Beton“ müsste herausarbeiten, warum die Teenager der Schule oder der Polizei nicht vertrauen und warum diese sie nicht auffangen können.
Stattdessen erscheinen Respektpersonen hier nur als Karikaturen: Lehrer rutschen in die rechte Ecke ab oder ticken komplett aus, Polizisten sind blasse Uniformträger. Auch Sport oder Musik bieten keinen Ausweg. In „Kriegerin“ war es David Wnendt weitaus besser gelungen, Prozesse mit Ursachen und Wirkungen aufzuzeigen.
So löblich es ist, jungen Figuren aus sozialen Brennpunkten filmische Aufmerksamkeit zu schenken, so sehr verstellt „Sonne und Beton“ den Blick auf Strukturen, die mitunter stark divergierende Werte der Bewohner des Viertels oder die Versäumnisse der Politik. Der Film weist mit seinem historischen Stoff zwar eine Kontinuität in der sozialen Frage und damit eine große Aktualität auf. Doch an einen Klassiker wie „Los Olvidados (Die Vergessenen)“ von Luis Buñuel reicht er nicht heran. Wie man ein ähnliches Sujet stilistisch beeindruckend, mit sozialem Gespür und Empathie für die chancenlosen Protagonisten schonungslos behandelt, hat Buñuel vor über 70 Jahren exemplarisch vor Augen geführt.