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Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
Kino ist Lyrik, die über die Klippe der Sprache springt. Seine Kraft reicht weiter und tiefer als das, was vom holprigen Festland der Vokabeln aus zu erkennen ist. Nicht zufällig wird Elisabeth, die mit Interpretationen überfrachtete Kaiserin „Sisi“ von Österreich-Ungarn, derzeit zum nassforschen Lieblingsmedium kinematografischer Selbstreflexionen. Kaum eine historische Figur an der Schwelle zur Moderne scheint besser geeignet, um über Beschränkung und Ausbruch nachzudenken, über die Enge feststehender (Geschlechter-)Bilder und die Sehnsucht nach einem unendlich sich ausdehnenden Horizont.
Das Ungesagte aus der Seele brüllen
In „Corsage“ von Marie Kreutzer fragt beispielsweise die von Vicky Krieps gespielte Kaiserin einen jungen Filmpionier, ob seine „Maschine“, die Kamera, sie auch „hören“ könne. Als er verneint (und anmerkt, dass das mal eine gute Idee wäre: Tonfilm!), ergreift sie die Chance und brüllt sich vor laufender Kamera bisher Ungesagtes aus der Seele. Man hätte es gerne gehört, doch wir hören es nicht, weil sich das Filmbild in dieser Sequenz historisch verkleidet und stumm bleibt und schwarz-weiß. Es erweitert damit aber Sisis Handlungs- und unseren Vorstellungsraum. Später, in Farbe und mit Musik, als alles gesagt und der alte Zopf ab ist, sehen wir Sisi vom Bug eines Schiffes ins Meer hinunterspringen. Diese Frau entzieht sich der Gegenwart, der ihren wie der unseren, und eilt ihr zugleich voraus.
Auch Frauke Finsterwalders „Sisi & Ich“ ist nah am Abgrund gebaut, wenngleich viel luftiger und lustiger. Zu Beginn ihres Kennenlernens streifen die beiden Hauptfiguren, Sisi (Susanne Wolff) und ihre neue Hofdame Irma (Sandra Hüller), an den Klippen Korfus entlang. Dort lebt die Kaiserin mit ihrem engsten Hofstaat in einer Art futuristischen Kommune, fern von Ehemann Franz Joseph (Markus Schleinzer) und ihren Kindern. Vom Wind zerzaust und unbeschwert zitieren die beiden Frauen wie aus einem Munde die letzte Strophe des Gedichts „Am Turme“ von Annette von Droste-Hülshoff: „Wär’ ich ein Mann doch mindestens nur,/ So würde der Himmel mir raten;/ Nun muß ich sitzen so fein und klar,/ Gleich einem artigen Kinde,/ Und darf nur heimlich lösen mein Haar,/ Und lassen es flattern im Winde!“ An dieselbe Klippe wird der Film zurückkehren, dann aber ohne Worte und mit dem Lächeln einer Befreiten.
Im anarchistischen Zwischenreich
Die Regisseurin schrieb, wie schon bei ihrem ebenso zarten wie sarkastischen Debüt „Finsterworld“, das Drehbuch erneut zusammen mit ihrem Ehemann Christian Kracht. Und wieder scheinen sich beider kreative Kräfte freudigst gepusht zu haben. Ihrem Ensemble hatte Finsterwalder ausdrücklich nahegelegt, sich zur Vorbereitung nicht mit den historischen Figuren zu beschäftigen. Spekulation und Ahnungslosigkeit als Konzept könnte natürlich gewaltig schiefgehen. Doch hier entstand von der Besetzung noch der kleinsten Nebenrolle über die Kostüme bis zur Musikauswahl (etwa Portishead oder die japanische Rockgruppe Seagull Screaming Kiss Her Kiss Her) eine Annäherung, deren Kapriolen aus dem historischen Stoff selbst heraus legitimiert scheinen: „Sisi & Ich“ spielt im anarchischen Zwischenreich zwischen Geschichts- und Gewichtskontrolle und dem, was keiner wissen und wägen kann. Weshalb so einiges möglich ist. Sogar eine Umdeutung des Attentats auf die Kaiserin.
Zunächst aber reisen Irma und ihre Mutter (Sibylle Canonica) an den kaiserlichen Hof, weil eine neue Hofdame gefunden werden soll. Die bisherige Gouvernante, Gräfin Festetics (Johanna Wokalek), fühlt sich den sportlichen Herausforderungen der rastlosen Monarchin nicht länger gewachsen und sucht eine Frau, „die mich ersetzen kann“. Allein diese Eingangsszene, in der sich im Höflichkeitsrahmen lauter Gewalttaten und kleinere Übergriffe abspielen, ist ein Kammerspiel, bei dem man die Augen von keiner der Darstellerinnen wenden mag. Angefangen vom Abtasten der Taille und der Bewertung von Gebiss und Waden bis zum unvermittelten Fausthieb der eigenen Mutter, der einen Blutstropfen auf dem bauschigen rosa Kleid von Irma hinterlässt und als Abzeichen ihrer unbedingten Hingabefähigkeit lesbar ist: Hier schleust sich, auch mit kleinen Lügen, eine von ihrer eigenen Familie unterworfene Frau wie durch ein Nadelöhr in ein anderes Regime ein, eines, das eine neue Freiheit verspricht und ungeahntes Leid.
Für diesen Zustand benutzt Irmas Erzählerinnenstimme aus dem Off die Kinometapher des Scheinwerfers: Sisis Zuwendung habe sich angefühlt, als sei „alles Licht der Welt“ auf sie gerichtet. War der Sisi-Scheinwerfer aus, sei es gewesen, als bekäme sie ein spitzes Glas ins Herz gerammt.
Eine Cola-Dose schwappt durchs Bild
Erst während der Dreharbeiten soll die Crew erfahren haben, dass auch Marie Kreutzer mit dem Sisi-Stoff befasst ist; zwischenzeitlich ist ja zudem bei RTL noch die Serie „Die Kaiserin“ erschienen. Dass dies Finsterwalder nicht erschüttert konnte, wird schon durch die Form von „Sisi & Ich“ plausibel: eher traumlogisch verknüpfend als historisch behauptend, folgt er seinem eigenen Regelwerk. In Finsterwalders magischem Realismus kann eine Cola-Dose durchs Bild schwappen und Irma einen Song aus dem Jahr 1971 mitsingen, den eigentlich nur wir Heutigen hören können: „The Lady With the Braid“ von Dory Previn. Als Sandra Hüller gerade die Zeile „Would you care to stay a while and save my life?“ intoniert, was ihrer Jobbeschreibung sehr nahekommt, springt hinter ihr Sisi von der Klippe. Zum Spaß, als Test. Niemand kann den Wechsel von glückseliger Leichtigkeit über verdutztes Innehalten zu lospreschender Panik überzeugender und lustiger spielen als Sandra Hüller.
Korfu ist so etwas wie ein Paradies, und wie es in Paradiesen nun einmal ist, spielt eine höchste Instanz die Untergebenen gegeneinander aus. Um sie dann wieder gnädig mit dem Sonnenstrahl der Zuwendung zu belohnen. Irma muss sich dem strikten Körperdiktat Sisis unterwerfen (Kokaintropfen und Brennnesseltee, tägliches Wiegen), um auf den exzessiven Wanderungen mithalten zu können und Sisis ästhetischen Vorlieben zu genügen. Damit ist Irma einverstanden und findet sogar Gefallen an der neuen Leichtigkeit auch ihres Gemüts.
Allerdings muss sie sich auch im eifersüchtigen Hofstaat behaupten. Da ist der zwielichtige Diener Graf von Berzeviczy (Stefan Kurt), da sind die wie aus der Antike herangeflatterten braungelockt-androgynen Zofen Fritzi (Sophie Hutter) und Marie (Maresi Riegner), und da ist Sisis Schwager Viktor (Georg Friedrich). Mit ihm, der offen schwul lebt, verbindet Sisi die Verachtung der starren Normen des Hofes. Doch während seine Rebellion in hemmungslosem Hedonismus besteht, entzieht sich Sisi dem gesellschaftlichen Druck durch die Verweigerung jener Bissen, die einem die Gesellschaft aufdrängt. So wie ihr in einer großartigen, beklemmenden Szene die eigene Mutter (Angela Winkler) das Maul mit einem Stück Fleisch stopft, worauf Sisi mit einem Fress- und Brechanfall reagiert. Beim gemeinsamen Auslöffeln einer Wassersuppe wiederum hört für Viktor fast die Freundschaft auf. Es obliegt der Kunst des Kameramann Thomas W. Kiennast, diese Spannungen so unaufdringlich wie unausweichlich ins Bild zu fassen.
Ein wohltuend kaltes Bad
Auch die Kostüme von Tanja Hausner brechen wahnwitzig und dennoch stimmig mit den historischen Maßgaben. Während die bösen Mütter ihre tonnenschweren Korsettkleider wie kriegerische Panzer der historischen Korrektheit tragen, bewegen sich Sisi und ihre Vertrauten in leichten, fließenden Stoffen und schlichten Schnitten à la japonaise, mit Anleihen aus dem „Reformkleid“ und hier und da einem aufgesetzten Rüschen-Krägelchen, das clownesk das Höfische zitiert. In manchem erinnert „Sisi & Ich“ an „Licht“ von Barbara Albert, an dem mit Katharina Wöppermann auch dieselbe Szenenbildnerin beteiligt war.
Der neue Historienfilm mit seinen klugen Regisseurinnen verpasst dem festgefügten und teils verarmten und verkitschten Erzählrepertoire des kollektiven Epochenwissens ein wohltuend kaltes Bad, nach dem sich umso besser träumen lässt.