Vorstellungen
Filmkritik
„Ich wollte nicht weg. Niemand hat mich gefragt“, sagt die 11-jährige Mona (Dileyla Agirman) mit festem Blick in die Kamera. Doch in ihrem Geburtsland Syrien herrscht der Diktator Assad und darüber hinaus seit Jahren ein grausamer Krieg. Das bedeutet Gewalt, Zerstörung, Tod. Erst in letzter Minute haben sich Monas Eltern entschieden, mit ihren Kindern ihre Heimat Rojava zu verlassen. Nun lebt die kurdische Familie im Berliner Arbeiterbezirk Wedding, und Mona ist plötzlich ein „Scheiß-Flüchtling“ und das in einer Klasse, in der viele Kinder eine sogenannte Migrationsgeschichte haben.
Die heißen Aysel und Jasmin, Hussein, Thi-Le, Terry oder Gina, und ihnen wurde schon erfolgreich eingetrichtert, dass aus ihnen sowieso nichts werden kann und jede Anstrengung umsonst ist. Und so kämpfen die Mädchen und Jungen um jede kleine Aufmerksamkeit: Wer haut den coolsten Spruch raus? Wer traut sich die krasseste Provokation? Wer kriegt die Lehrer da vorne klein? Die (fiktive) „7. Weddinger Grundschule“ würde es sofort in jede Schlagzeile zum Thema Problemschule schaffen – und Herr Chepovsky (Andreas Döhler), an dessen Ohr ein kleiner schwarz-roter Anarcho-Stern baumelt und den alle nur Herr Che nennen, wäre darin der Fixstern im Chaos. Denn er glaubt an seine Schüler. Er ist für sie da, selbst wenn sie Mist bauen, trainiert unbeirrt die Mädchen-Fußballmannschaft und holt Mona ins Team, als er ihren „harten Schuss“ erkennt.
Mit Humor und einem „harten Schuss“
Es geht in „Sieger sein“ aber nicht nur um Perspektivlosigkeit und Ausgrenzung. Die deutsch-kurdische Regisseurin Soleen Yusef erzählt mit viel Humor vor allem davon, wie Mona erst im Fußballtor und dann in ihrer Klasse ankommt. Yusef schöpft dabei auch aus ihrer eigenen Biografie. Als Neunjährige ist die gebürtige Irakerin mit ihrer Familie nach Deutschland geflohen und hat sich wie Mona mit Hilfe eines engagierten Lehrers und des Fußballs in ein neues Leben gekickt.
„Sieger sein“, der im Rahmen der Initiative „Der besondere Kinderfilm“ entstand, erzählt höchst altersgerecht von dieser Herausforderung. Und zwar so, dass die Zuschauer sich einfühlen und begreifen können, was es heißt, eine neue Heimat finden zu müssen, weil es in der alten keine Zukunft mehr gibt. Immer wieder lässt Soleen Yusef ihre junge Hauptfigur, die, wie sie einmal erklärt, nur in ihrer Vorstellung perfekt Deutsch reden kann, direkt in die Kamera sprechen. Sie adressiert damit jeden einzelnen im Kinosaal und macht ihn so zum Verbündeten.
In vielen Rückblenden wird deutlich, was das Mädchen erlebt hat, aber auch, was es zurücklassen musste: Freunde, den staubigen Bolzplatz oder Tante Helin, die sich dem bewaffneten Widerstand angeschlossen hat. Am meisten aber sehnt sich Mona danach, nicht mehr als „Opfer“ angesehen zu werden, sondern als das kluge und engagierte Mädchen, das sie ist. Sie kann sich nicht über eine „4 minus“ in Mathe freuen, auch wenn ihre Lehrerin das für eine herausragende Leistung hält, da sie ja schließlich „neu“ in Deutschland sei.
Ständig gerät etwas außer Kontrolle
„Sieger sein“ ist bei aller Ernsthaftigkeit ein mitreißender und in sich stimmiger Unterhaltungsfilm. Er ist laut, bunt, eigenwillig und frech und spielt mit Stereotypen und Übertreibungen. So herrscht in Monas Schule mitunter pure Anarchie; ständig gerät etwas außer Kontrolle. Dass der Schulalltag so aussehen kann, demonstrierten nicht zuletzt auch Dokumentarfilme wie „Herr Bachmann und seine Klasse“ oder „Favoriten“. Monas Welt erscheint realitätsnäher und authentischer als etwa der Ponyhof von Bibi und Tina – selbst dann, wenn Mona ein paar Sätze zum Mitschreiben à la „Diktatur ist das Gegenteil von Freiheit“ von sich gibt. Aber sie weiß schließlich aus eigener leidvoller Erfahrung, wovon sie spricht; zudem schadet es derzeit kaum, wenn der Wert von Demokratie ausdrücklich betont wird.
Vor allem aber führt „Sieger sein“ seine Protagonisten nie vor. Er macht sich vielmehr stark für die Kinder und ihren Wunsch, gesehen zu werden oder eine reelle Chance in der Schule wie im Leben haben zu können. Und er hinterfragt mit ihnen zugleich ein Schulsystem, das auf Leistung setzt, statt Kinder und ihre Stärken zu fördern. Überdies gesteht ihnen der Film eine nachvollziehbare Entwicklung zu, denn die Mädchen und Jungen lernen im Laufe der Geschichte, dass man nicht gegeneinander, sondern miteinander spielen muss, wenn man gewinnen will. Darin ist „Sieger sein“ ein klassischer Fußballfilm.
Eine Geschichte, die alle angeht
Man könnte dem Film vorwerfen, dass der Plot vorhersehbar sei oder dass er die Situation in Syrien und die Flucht der Familie vereinfache. Aber genau das macht ihn so altersgerecht und erlaubt es der Zielgruppe, im Kino mitzufühlen und sich auf das Wesentliche der vielschichtigen Story zu konzentrieren. „Sieger sein“ ist kein Heile-Welt-Märchen, sondern erzählt eine Geschichte, die alle angeht. Das sieht man im Kinderkino viel zu selten.