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Filmplakat von Saint Omer

Saint Omer

123 min | Drama, Krimi | FSK 12
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Die aus dem Senegal stammende junge Pariser Professorin und Schriftstellerin Rama (Kayije Kagame) reist ins nordfranzösische Saint Omer, um an einem Gerichtsprozess teilzunehmen. Angeklagt ist die Senegalesin Laurence Coly (Guslagie Malanga), eine junge Frau, die beschuldigt wird, ihre 15 Monate alte Tochter getötet zu haben, indem sie sie an einem Strand in Nordfrankreich der steigenden Flut aussetzte. Doch schon früh im Prozess wird klar, dass der Fall nicht so eindeutig ist, wie er zunächst scheint. Die Worte der Angeklagten und Zeugenaussagen erschüttern Ramas Überzeugungen und stellt unser eigenes Urteil in Frage.

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Filmkritik

An der französischen Küste hat die aus Senegal stammende Studentin Laurence Coly (Guslagie Malanda) ihr 18 Monate altes Kind ertränkt. Im Zentrum von „Saint Omer“ steht der nachfolgende Prozess in der gleichnamigen Stadt. Dabei erwartet einen aber kein herkömmliches Gerichtsdrama. Die ungewöhnlich sanftmütige Richterin (Valérie Dréville) liest zu Beginn zwar die Namen der Geschworenen vor, jedoch schenkt der Film ihnen weiter keine Aufmerksamkeit. Es ist ein frühes Indiz dafür, dass das Urteil hier entweder den Zuschauern überlassen bleibt oder am Ende vielleicht gar keine Rolle spielt.

Im ersten Spielfilm der französischen Dokumentaristin Alice Diop lernt man zunächst Rama (Kayije Kagame) kennen. Sie lehrt an der Uni und beobachtet den Prozess für ihr neues Buch, in dem sie sich dem Kriminalfall über die antike Medea-Sage nähern will. Ähnlich wie die mythologische Figur bleibt auch Laurence nach ihrem Umzug nach Frankreich eine Fremde und Außenseiterin. Sie lässt sich auf eine ungleiche Beziehung mit einem Einheimischen ein und tötet schließlich aus Verzweiflung ihr eigen Fleisch und Blut.

Was Rama genau an dieser Geschichte interessiert, bleibt eine Weile nebulös; die junge Frau disqualifiziert sich wegen ihrer konsequent verschlossenen Art eigentlich ohnehin als Protagonistin. Trotzdem entwickelt sie durch ihre mächtige Statur und das schmale, markante, von langen Braids gerahmte Gesicht eine fesselnde Präsenz. Man sieht Ergriffenheit und Angst in ihrem durchdringenden Blick, ohne die Ursache dafür zu kennen. Sehr lange bleibt Rama passiv, wie ein Medium, durch das man die Ereignisse wahrnimmt.

Präziser Minimalismus

Die Verhandlung inszeniert Diop mit präzisem Minimalismus wie eine Theateraufführung. Geduldig verharrt die Kamera auf einzelnen, meist in der Bildmitte platzierten Darstellern: auf der empathischen Richterin, der ähnlich behutsam agierenden Anwältin und vor allem auf Laurence. Während Rama die meiste Zeit schweigt, offenbart Laurence sich in ausführlichen Monologen über ihr von Entfremdung, Isolation und Auflösung geprägtes Leben. Wenn zwischendurch auf eine der bewegungslosen Zuhörerinnen geschnitten wird, meint man manchmal, das Bild wäre eingefroren.

Diese enorme Konzentration auf Sprache und Körper fühlt sich in „Saint Omer“ gelegentlich ein bisschen trocken an. Aber letztlich führt die radikale Reduktion zu keiner Versachlichung, sondern zu einer zurückgenommenen, aber umso spürbareren Emotionalität. Die Figuren wirken permanent angespannt, die fast ausdruckslos sprechen, aber dafür viel über ihre glühenden Augen erzählen. Besonders in Laurence scheint es zu brodeln. Die Texte beruhen zwar mitunter auf einem wahren Kriminalfall, aber statt um die Durchleuchtung des realen Ereignisses geht es mehr um persönliche Erfahrung.

Mit der Zeit wird klar, dass sich in Laurence verschiedene Ängste von Rama bündeln. Auch sie stammt aus einer senegalesischen Familie, hat ein distanziertes Verhältnis zu ihrer Mutter und ist schwanger. Wenn sie sich beim Mittagessen einmal ein Bier bestellt, scheint sie sich – wenn auch in wesentlich indirekterer Form als Laurence – sogar zerstörerisch gegen ihr eigenes Kind zu wenden.

Weibliches Gemeinschaftsgefühl

„Saint Omer“ widmet sich Themen wie Mutterschaft und Rassismus, ohne sie thesenhaft auszuformulieren oder in dramatischen Konflikten aufzulösen. Der Film ist dabei zugleich genau und unverbindlich. Es geht um Überschneidungen, aber nicht um deckungsgleiche Erfahrungen. Mehrmals beschwört Diop dabei ein weibliches Gemeinschaftsgefühl herauf. Während einer Vorlesung von Rama schneidet sie auf interessierte Studentinnen; und die Verhandlung schafft durch Aufnahmen von wissenden Zuhörerinnen eine verständnisvolle Atmosphäre, die lediglich einige Male durch das bösartige Gepolter des Staatsanwalts gestört wird.

Diop will, dass die Zuschauer:innen neugierig sind und genau hinsehen. Nähe wird im Film meist durch Blickkontakt hergestellt. Dieser Kontakt kann aufrütteln und erschüttern. Als sich Rama am Laptop eine Szene aus Pasolinis Medea-Verfilmung ansieht und sich von der Hauptdarstellerin Maria Callas angestarrt fühlt, schreckt sie ebenso zurück wie im Gerichtssaal, als Laurence sie einmal lange und vertraut ansieht. Es wirkt ein bisschen pathetisch, wenn die Darstellerinnen gegen Ende mehrmals direkt in die Kamera blicken, aber es folgt durchaus der Logik, dass Blicke zu verstehen helfen.

Diops Betrachtungen dringen unter die Oberfläche und bleiben doch vage. „Saint Omer“ ist wie ein Puzzle, bei dem einige Teile fehlen, das Bild aber trotzdem erkennbar ist. Wenn Rama am Anfang über „Hiroshima Mon Amour“ von Marguerite Duras spricht und feststellt, dass die traumatische Erfahrung der Romanheldin darin zu einem lyrischen Lied wird, greift sie diese Formulierung am Ende noch einmal mit dem Nina-Simone-Song „Little Girl Blue“ auf. Wie der Film lässt das Lied eine Traurigkeit spüren, ohne sie ganz zu begreifen.

Erschienen auf filmdienst.deSaint OmerVon: Michael Kienzl (27.8.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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