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Filmkritik
Inger (Sofie Gråbøl) macht aus ihrer psychischen Erkrankung kein Geheimnis. Die anderen merken ja ohnehin, dass etwas an ihr anders ist: an ihrer geduckten Haltung, dem unsicheren Gang und dem suchenden Blick. Also sagt sie bei der Vorstellungsrunde zu Beginn der Busreise nach Paris frei heraus, dass sie schizophren ist. Was ein ziemlicher Stimmungskiller ist. Das betroffene Schweigen und die nervösen Seitenblicke in den Sitzreihen lassen erahnen, wie mutig Inger trotz ihres scheuen Auftretens sein kann. Erst als sich dann auch Ingers Schwester Ellen (Lene Maria Christensen) und deren Mann Vagn (Anders W. Berthelsen) vorstellen, die Inger auf der Reise begleiten, entspannt sich die Atmosphäre.
Inger hat als junge Frau in Paris gelebt. Das war für die knapp 50-Jährige eine unvergessliche, wunderbare Zeit. Als sie nach Dänemark zurückkehrte, brach ihre Krankheit aus. Ellen und Vagn lösen mit der Reise jetzt ein Versprechen ein, Inger noch einmal mit dorthin zu nehmen, wo sie so glücklich war. Das ist ein Szenario, das kitschig und wie nach einem fürs Arthouse-Publikum maßgeschneiderten Handicap-Road-Movie à la „Vincent will Meer“ oder „Hasta La Vista“ klingt.
Dünnes Haar, dicke Gläser
Auch deshalb betonte Drehbuchautor und Regisseur Niels Arden Oplev wohl, dass es sich bei „Rose – Eine unvergessliche Reise nach Paris“ um einen sehr persönlichen Film handle. Inspiriert wurde das Drehbuch nämlich von der realen Frankreich-Reise seiner beiden Schwestern im Spätsommer 1997. Oplev war damals aber nicht dabei. So authentisch die von Sofie Gråbøl verkörperte Inger auch wirkt und so überraschend, berührend oder beklemmend manche Momente auch sind, bleiben die dichotomischen Strukturen einer genretypischen Drehbucharchitektur dennoch unverkennbar.
Der Antagonist, die männliche Inkarnation sozialer Borniertheit und diskriminierender Vorurteile, sitzt in Gestalt des Lehrers Andreas (Søren Malling) mit ausgedünntem weißem Haar und dicken Brillengläsern ein paar Reihen weiter im Bus. Als er Inger nach der Vorstellungsrunde argwöhnisch beäugt, reagiert die mit der unverblümten Frage „Wollen Sie mich ficken?“. Das war es dann fürs Erste mit der aufgelockerten Stimmung an Bord.
Doch so schroff, verstörend und bedrohlich Ingers Verhalten auf die restliche Reisegesellschaft mitunter auch wirkt, strahlt sie zugleich eine melancholische Zärtlichkeit und Liebenswürdigkeit aus, mit der sie die anderen zunehmend für sich gewinnt. Bei einer Rast ergreift die Frau des Lehrers Partei für Inger, woraufhin diese unvermittelt erklärt, Margit (Christiane Gjellerup Koch) am liebsten erwürgen zu wollen. Als Margit dann aber scherzhaft fragt, ob das auch morgen noch gehe, und Inger mit einem lapidaren „Ja“ zustimmt, klingt das Erwürgen plötzlich eher nach einer Umarmung.
Unterwegs nach Paris ereignen sich mehrere solcher Episoden an der Schwelle zur Eskalation, die manchmal leichthin und beiläufig, oft aber auch nur mühsam vermieden oder verschoben wird. Dramaturgisch sorgt das für durchgängige Spannung zwischen den eingestreuten bizarren, komischen und tragikomischen Momenten.
Eine Serviette für den Igel
Ausgerechnet Christian, der 12-jährige Sohn von Andreas und Margit, freundet sich mit Inger an. Ihre schonungslose Ehrlichkeit fasziniert ihn. Als sie an einem Rastplatz darauf beharrt, nicht weiterzufahren, ehe ein toter Igel würdevoll bestattet ist, stellt er seine Pralinenschachtel als Sarg zur Verfügung und organisiert eine Serviette als Leichentuch. Christian ist es auch, dem Inger schließlich von der unglücklichen Liebe zu einem verheirateten Mann erzählt, die sie einst „verrückt werden“ ließ. Der Mann lebt nach all den Jahren noch immer in derselben Wohnung in Paris. Auch das findet Christian heraus. Als er es Inger schließlich berichtet, beschließt sie, ihm einen Besuch abzustatten.
Dass an einer Welt, in der eine junge Frau an der Liebe verrückt wird, etwas nicht stimmen kann, ist die unausgesprochene Prämisse des Feel-Good-Movies, das eine Filmreise lang die fragile Utopie einer besseren Wirklichkeit inszeniert. Ähnlich wie Inger bewegt sich auch der Film auf einem schmalen Grat zwischen gutgemeinten Klischees und Wahrhaftigkeit, Empathie und Pathos. Eine unaufgeregte Kameraführung, subtil-lakonische Wendungen und die charismatisch-bezaubernde Darstellung von Sofie Gråbøl sorgen dafür, dass dieser Balanceakt gelingt. Ein im buchstäblichen Sinne wunderschöner Film.