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Filmkritik
Julia, rasend, explosiv, stürmt in alle Richtungen; die Kamera hat kaum eine Chance, sie einzufangen. Ein paar Typen haben das Schloss geknackt und ihr Rad geklaut. Für Julia, an deren Halskette ein Kolben baumelt, das „Herz des Motorrads“, ist die Maschine eine Verlängerung ihres von Freiheitsdrang getriebenen Körpers, fast schon ein lebenswichtiges Organ. Ein Telefonanruf und schon steht die junge Frau in einer reichen Wohngegend vor einer 3000 Euro teuren Honda 85er. Mit dem Blick einer Kennerin begutachtet sie Bremse und Zylinderköpfe. Die Probefahrt bis zur nächsten Ecke muss sie dem Verkäufer abringen, als Vertrauensbeweis drückt sie ihm ihre Tasche in die Hand, die sie vorher noch hastig mit Kieselsteinen befüllt hat. Kaum hat Julia den Motor hochgezogen, ist sie auch schon auf und davon, vor Glück jauchzend, gelöst, das feste lockige Haar flattert im Fahrtwind.
Furchtlos, selbstbestimmt und unabhängig
Atemlos, schnell und dynamisch bewegt sich „Rodeo“, das Spielfilm-Regiedebüt der Französin Lola Quivoron, mit seiner schroffen Asphalt-Piratin durch eine Welt, die sich von Chrom, Metall, Asphalt und dem Thrill von Geschwindigkeit und Gefahr ernährt. Auf illegalen Motocross-Pisten kommt Julia in Kontakt mit der Biker-Gang „B-Mores“ und verschafft sich Einlass in diese eingeschworene Gemeinschaft, deren Basislager eine Garage ist. Als einzige Frau unter Männern trifft ihre Anwesenheit aber nicht nur auf Zustimmung. Ein Verletzter, dem sie geholfen hat, sieht sich in seiner Männlichkeit verletzt, ein anderer stößt sich an ihren kriminellen Aktivitäten. Dass sie allein unterwegs ist und furchtlos, scheinbar niemanden braucht und auch an Geld nicht sonderlich interessiert ist, irritiert genauso wie ihre unbestimmte sexuelle Identität. „Das ist meine Geschichte“, sagt die Frau aus Guadeloupe einmal, als sie nach dem Tattoo auf ihrem Arm gefragt wird. Und erzählt weiter nichts.
Domino, der aus dem Knast operierende Chef der Gang, erkennt ihr Potenzial, gibt ihr ein Handy und einen Schlafplatz in der Garage, wenn sie für ihn Motorräder heranschafft. Julias System, über Kleinanzeigen hochwertige Maschinen ausfindig zu machen und beim Verkaufsgespräch dann damit zu türmen, hat sich bewährt; die Bestellungen rasseln nur so herein. Für Dominos Ehefrau Ophélia, eine überforderte Mutter, die von ihrem Mann kleingehalten und kontrolliert wird, erledigt Julia inzwischen auch die Einkäufe.
Je mehr sich ihre Position aber festigt, desto angreifbarer wird sie. Ein Unbekannter aus der Gang bedroht sie, nachts wird sie auf der Straße überfallen und verprügelt. Bei einem waghalsigen Raubüberfall auf einen fahrenden Lastwagen mit einer Ladung Motorräder droht Gefahr aus unmittelbarer Umgebung.
Eine feministische Umdeutung des Genres
Mit der schwer chiffrierbaren Protagonistin, die in nahezu jeder Szene im Fokus steht, mischt Lola Quivoron das ultra-maskuline Genre des Biker-Films auf und geht gleichzeitig ganz darin auf. Es ist alles da: die Bewegung, der Rausch und die gefährlichen Stunts, die erotische Beziehung zur Maschine, das Klandestine der Gemeinschaft, die subkulturellen Codes, das Versprechen auf Freiheit, die Bedeutung von Musik (ein rauer, aggressiver Post-Reggaeton). Die Parallelgesellschaft, die ihren sozialen Hintergrund in den Einwanderermilieus der Banlieue hat, wird aus dem Inneren des Mikrokosmos heraus betrachtet; die Darsteller:innen sind überwiegend Laien, Julie Ledru, die Julia verkörpert, ist selbst Bikerin.
Stilistisch ist „Rodeo“ einem Hyper-Naturalismus verpflichtet, der gelegentlich in traumähnliche Sequenzen ausbricht. Als Referenz nennt die Regisseurin unter anderem „Lärm und Wut“ (1988). Doch im Unterschied zum Film von Jean-Claude Brisseau, der ganz von Ambivalenz getragen ist, bleibt „Rodeo“ gerade in der Figurenzeichnung den Konventionen des Sozialdramas verhaftet. Und wenn sich der Film am Ende von seiner Hauptfigur mit einem groben Symbolismus verabschiedet, nimmt er ihr einiges von der Mehrdeutigkeit, die er so nachdrücklich behauptet.