- RegieMarcus Lenz
- Dauer96 Minuten
- GenreDrama
- Cast
- TMDb Rating5/10 (1) Stimmen
Vorstellungen
Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
Roman, ein 9-jähriger sommersprossiger Junge, wird nach dem Tod seiner Großmutter aus dem bisherigen Lebensumfeld in der Ukraine herausgerissen. Versteckt in einem Lieferwagen, überquert er die Grenzen bis nach Deutschland. Aber die Mutter, die hier illegal als Pflegekraft arbeitet, ist ihm fremd. Und mehr noch der Mann, Gerd, dessen Frau sie bis zu deren Tod vor fünf Monaten betreute.
Gleich zu Beginn von „Rivale“, einer Studie über eine abrupt beendete Kindheit, findet Regisseur Marcus Lenz ein ausdrucksstarkes Motiv für die Verlorenheit des Jungen. Roman sitzt vor einer Tapete, die eine stilisierte Waldlandschaft mit Birken zeigt. Doch die Idylle ist künstlich, ein Imitat der heimatlichen Geborgenheit; das Original ist für Roman unerreichbar geworden.
Verweigerung, Widerstand und Einsamkeit
„Rivale“ ist zuallererst eine Erzählung in Bildern und Atmosphären. Die Dialoge sind auf ein Minimum beschränkt. Der Junge versteht kein Deutsch, und Gerd, mit dem er allein bleibt, nachdem seine Mutter plötzlich in ein Krankenhaus eingeliefert wird, spricht kein Ukrainisch. Es hat den Anschein, als verweigere sich Roman der Sprache von Gerd, weil er in ihm jenen Rivalen sieht, der dem Film seinen Titel gibt. Einmal beobachtet er, wie die Mutter halbnackt mit Gerd scherzt – aus Zuneigung? Oder weil sie sich durch die Verbindung eine bessere Zukunft für sich und den Jungen verspricht? Erst als Gerd Roman beibringt, mit seiner Jagdflinte umzugehen, entwickelt der Junge ein Interesse: das Schießtraining als Vertrauensbeweis, als Versprechen des Erwachsenseins.
Als schließlich auch Gerd, der an Diabetes leidet, nicht mehr für ihn da sein kann, baut Roman ihm eine Art Totenschrein. Doch der Abschied vom früheren Rivalen ist zugleich der Absturz in die tiefste Einsamkeit.
Aus der filmischen Novelle, die leicht ins sentimentale Sozialdrama hätte abdriften können, filtert Marcus Lenz einen dichten Genrefilm. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf entsprechende Fährten – bedient dann aber die Erwartungen doch nicht. „Rivale“ ist kein gängiger Coming-of-Age-Film, in dem der junge Protagonist die Welt zu erkennen und sich in ihr zu bewähren lernt. Denn Roman, präzise und ausdrucksstark gespielt von Jelisar Nasarenko, verlässt seine Kindheit keinesfalls gereift, sondern wird durch die Umstände auf animalische Instinkte zurückgeworfen.
Das Fauchen und Keuchen gegenüber einem unbekannten Eindringling am Ende des Films assoziiert den Überlebenskampf eines verwundeten Wolfs in der Wildnis. Im deutschen Wald, dem Handlungsort zahlreicher Märchen und Legenden, ist Roman zu einem Tiermenschen geworden, vergleichbar dem jungen Victor in François Truffauts „Der Wolfsjunge“. Und noch ein anderer Film blitzt aus der Erinnerung auf: Elem Klimows „Komm und sieh“ mit Alexej Krawtschenko als Fljora.
Aus der Perspektive des Kindes
In „Rivale“ erwachsen die animalischen Instinkte allerdings nicht durch Kriegsgräuel wie bei Klimow, sondern mitten im fragilen Frieden. Doch auch dieser Frieden hat seine Fallen und Untiefen: den Verlust von Heimat, das Eingesperrtsein in fremder Umgebung, die Enttäuschung von Vertrauen, die Erfahrung falscher Versprechen, Verlustangst, Eifersucht und Sprachlosigkeit. Nur als Hintergrund klingen Themen wie der Pflegenotstand und der Einsatz illegaler Pflegerinnen aus Osteuropa an. Glücklicherweise verzichtet der Film darauf, sexuellen Missbrauch zu thematisieren, obwohl manche Szenen auch solche Fährten legen.
„Rivale“ ist vorwiegend aus der Perspektive von Roman erzählt. Die Kamerablicke sind meist seine Blicke, die Bildmetaphern machen seinen Seelenzustand transparent. Wenn er sich einmal in eine Gardine einrollt, kommt das einer Verpuppung gleich, dem Wunsch nach einer Rückkehr in eine imaginäre Sicherheit. Ameisen als Spielkameraden belegen seine Einsamkeit. Wenn Roman den Barbiepuppen, die Gerd als Andenken an seine Frau in einem für ihn verbotenen Zimmer aufbewahrt, die Haare abschneidet, ist das ein Akt tiefster Verzweiflung.
Neben Jelisar Nasarenko überzeugt vor allem Udo Samel als Gerd: zugleich Nutznießer wie Opfer der Umstände, kein Monster, sondern eine facettenreiche Figur, der der Film distanziert, aber nicht abwertend, mit gebotener Ambivalenz begegnet. Ein Mensch, anders und doch ebenso einsam wie Roman.
Unterwegs in der Ukraine
Gedreht wurde die deutsch-ukrainische Produktion in der Nähe von Irpin, jener Stadt, die im Ukrainekrieg als eine der ersten angegriffen wurde. Das Hotel, in dem das Drehteam wohnte, wurde von russischen Invasoren geplündert, sein Besitzer verwundet. Jelisar Nasarenko und die Darstellerin seiner Mutter Oksana, Maria Bruni, leben inzwischen in Berlin. Regisseur Marcus Lenz reist gegenwärtig mit seiner Frau, einer Fotografin, durch die Ukraine, um den Krieg zu dokumentieren.