Mit „Räuberhände“ hat İlker Çatak („Es gilt das gesprochene Wort“) den Erfolgsroman von Finn-Ole Heinrich verfilmt. Das Buch avancierte nach seiner Erstveröffentlichung 2007 zum Beststeller, gilt heute in vielen deutschen Schulen als Pflichtlektüre und wurde in seiner Bühnenfassung am Hamburger Thalia Theater bereits über 100 mal aufgeführt. Wahrhaftig und einfühlsam erzählt Çatak von einer tiefen, prägenden Freundschaft und vom einzigartigen Lebensgefühl mit 18 – jener Zeit des Aufbruchs, in der alle Möglichkeiten offen scheinen. Emil von Schönfels und Mekyas Mulugeta glänzen als Freundespaar, das sich auf eine länderüberspannende Suche nach Freiheit, Heimat und Identität macht.
- RegieIlker Catak
- ProduktionsländerDeutschland
- Dauer92 Minuten
- GenreDrama
- Cast
- Empfehlung der Jugendfilmjury16 - 99
Vorstellungen
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Filmkritik
Um sich auch als Mensch jenseits der 40 noch einmal in jene Stimmung kurz vor und nach dem Abitur zu versetzen, zwischen bleierner Lustlosigkeit und Aufbruch, braucht man nur ein paar Nutzer-Rezensionen zum Roman „Räuberhände“ von Finn-Ole Heinrich aus dem Jahr 2007 zu lesen. Die Geschichte von einem wohlsituierten Lehrersöhnchen und einem Vaterlosen mit arbeitsloser Alkoholikerin-Mutter, die gemeinsam vom deutschen Schrebergarten ins Istanbul der Nullerjahre reisen, stellt offenbar nicht nur die Freundschaft der frischgebackenen Abiturienten auf die Probe, sondern auch die Geduld eines Teils der jungen Leserschaft: Verwirrend, diese Zeitsprünge, und überhaupt: „Ich habe das Buch in der Schule lesen müssen!“ Mit diesem Seufzer beginnen selbst positive Bewertungen. Zwang statt Spaß? Unnötige Anstrengung? Nie mehr!
Wie macht man aus sich einen Türken?
So erklärt sich wohl auch, dass Finn-Ole Heinrich 14 Jahre und Hunderte von Autorenlesungen vor deutschen Schulklassen später für die Verfilmung seines Bestsellers selbst ein Drehbuch schrieb, das stärker auf Linearität und „Handlung“ setzt (wie er selbst sagt). Unter der Regie von İlker Çatak erzählt der Film andererseits vieles gar nicht erst aus. Etwa Samuels (Mekyas Mulugeta) titelgebende „Räuberhände“: Im Buch werden seine blutig geknabberten Fingerkuppen ausführlich beschrieben (zum Entsetzen empfindsamer Leserinnen), als Nachweis dafür, dass der coole Mädchenschwarm unter innerer Unruhe leidet.
Der Film hält sich mit der Erklärung des Titels hingegen nicht lange auf. Ganz ähnlich wird die Ironie heruntergedimmt, mit der Samuel sich auf der Suche nach seinem vermeintlichen Erzeuger eine Identität als Türke konstruiert. Während das Buch mit liebevollem Spott Samuels Selbsttürkisierungsbemühungen beschreibt, verzichtet der Film so vehement auf Ironie, dass man ohne Kenntnis des Romans eine Zeitlang meinen könnte, Samuel sei wirklich halber Türke.
Um trotz der neuen Geradlinigkeit und fehlenden Doppelbödigkeit keine Langeweile aufkommen zu lassen, reicherten Heinrich und seine Co-Drehbuchautorin Gabriele Simon die leiseren, kammerspielartigen Roman-Passagen mit äußerer Action an. In Istanbul, wo Samuel seinen unbekannten Vater vermutet und wo er schon bald mit einem Infekt im Pensionszimmer vor sich hin speit und fiebert, folgt der Film lieber den Besorgungsgängen von Janik (Emil von Schönfels). Was für ein atmosphärisch dichter, erfrischend nicht-pittoresker Bilderbogen durch schäbige Shops und ranzige Straßenecken! Paradoxerweise verliert der Film durch seine nach Tempo strebenden dramaturgischen Seitenblicke jedoch nach und nach jene flirrende Dynamik, die ihn im zupackenden ersten Drittel noch so vielversprechend angetrieben hat.
Das eine Tabu verdrängt das andere
Dass zwischen Janik und Samuel wie unter Brüdern gerempelt und gebalgt wird, scheint die natürlichste Sache der Welt zu sein, schließlich wurde Samuel von Janiks linksliberalen Eltern wie ein eigener Sohn aufgenommen. Er schlief auch in Janiks Zimmer, man ist sich nah. Traurig ist, dass Finn-Ole Heinrich davon berichtet, auf Social Media dafür angegriffen worden zu sein, dass sein Buch „scheiß schwul“ sei.
Im Film deuten sich homoerotische Zärtlichkeiten nur in Traum-Passagen an, wobei in solchen Szenen die von Janik begehrte Mutter Samuels, Irene (Katharina Behrens), die Dritte im Bunde der Liebe ist und als quasi-ödipales Tabu das vermeintliche andere Tabu in den Schatten stellt. Jede(r) wird zum Medium der Liebe der oder des anderen; jede Figur steht störend und verbindend zugleich zwischen den zwei anderen.
Schöner kann man die Ambivalenz von Nähe kaum einfangen, wie es der neugierig und respektvoll sich an die Protagonisten heftenden Handkamera von Judith Kaufmann gelingt. Nach seinem Dreier-Traum völlig verwirrt erwacht, verdreifacht sich Janik nun sogar selbst, jedenfalls sehen wir ihn zugleich auf der Bettkante, im Spiegel und im Monitor des ausgeschalteten Computers. Ein Ich, das sich buchstäblich erst wieder sammeln muss. Wie das einem jungen Menschen eben passieren kann in dieser Lebensphase, wenn die Suche nach Identität und Lebenssinn noch unabgeschlossen ist.
Neben den beiden Protagonisten, die mit Kraft und Sensibilität dieses richtungslos-zielstrebige Taumeln zwischen rührender Unbekümmertheit und unbändigem Wissenwollen mit Leben füllen, holt vor allem die Bildgestaltung das Maximale aus dem Drehbuch heraus. Kaufmanns dahinfließende und dennoch akkurat komponierte Bilder sorgen immer wieder dafür, dass der narrative Inhalt fluide und mehrdeutig wird und das spannungsvolle Geschehen das Bild selbst sein darf.
Eine andere Liebes- und Trennungsgeschichte
Trotzdem gibt der Film den Figuren zu wenig Zeit, um ihre angelegten Ambivalenzen zu entfalten. Irenes Penner-Freunde etwa: Im Buch wird von ihrem herzzerreißenden Bemühen erzählt, gegenüber Samuel nüchtern zu wirken, im Film sind sie einfach besoffene Typen auf der Couch, die auch noch übergriffig sind. Bloße Staffage.
Ebenfalls nur sehr zurückhaltend deutet der in Berlin geborene Regisseur İlker Çatak, der als Jugendlicher selbst einige Jahre in Istanbul lebte, eine andere Liebes- und Trennungsgeschichte an. Für ihn persönlich, sagt Çatak, sei der Film auch eine Suche „nach dem Istanbul, wie ich es zuletzt nicht vorfinden konnte. Viele Menschen kehren der Stadt und dem Land den Rücken zu. Die Stimmung ist bedrückt“. Das erfährt man im Interview; der Film beschränkt sich auf ein paar unbehagliche Situationen. Dass Çatak politische und soziale Zusammenhänge so sehr im Vagen lässt und Figuren (wie die Eltern) stattdessen darauf reduziert, nicht weiter hinterfragte Verhältnisse zu repräsentieren, macht „Räuberhände“ letztlich zu einem nostalgischen, sich ins Private einhegenden filmischen Schrebergarten.