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Filmkritik
Zum zweiten Male wurde versucht, den Roman "Der Prozeß" von Franz Kafka auf die Filmleinwand zu übertragen. Die erste Verfilmung, 1954 von dem Regieneuling Luigi Di Gianni unternommen, war gescheitert und hat nach dem Mißerfolg auf der venezianischen Biennale jenes Jahres nirgendwo einen Verleiher gefunden. Di Gianni hatte begonnen, den ganzen Roman in seiner nüchternen Gegenständlichkeit schier Wort für Wort in das Filmbild zu übersetzen. Da das Material überhandnahm und eine ganze Filmserie entstanden wäre, mußte er sich schließlich auf die Anfangskapitel beschränken, um noch in relativ abendfüllender Länge zu bleiben, und außerdem zeigte sich allzubald, daß die gleichsam naturalistische Erzähltechnik Kafkas zwar wiederzugeben War, aber daß die hinter der Alltagswelt des Josef K sich eröffnenden transzendenten Bereiche auf diesem Wege nicht erreicht werden konnten. Fast möchte man meinen, Orson Welles kenne jenen ersten Verfilmungsversuch, denn er hat genau die damals gemachten Fehler vermieden und nun den entgegengesetzten Weg eingeschlagen, den einer albtraumhaften Abstraktion. Das Scherzwort liegt nahe, aus dem Josef K von Franz Kafka wäre darüber ein Citizen K von Welles geworden, doch ist der Filmregisseur hier mit Kafka durchaus nicht eigenwilliger umgesprungen als früher bei "Othello" und "Macbeth" mit Shakespeare.
Die Gestalten des Othello und des Falstaff sind uns heute - dank Verdi - von der Opernbühne her vertrauter als vom Schauspieltheater, von dem sie trotz des Namens Shakespeare so gut wie verdrängt sind. "Pelléas und Mélisande", das dramatische Meisterwerk des Nobelpreisträgers Maeterlinck, kennt man heute überhaupt nur noch in der Veroperung durch Debussy. Zwar wird der Roman von Kafka gewiß nicht durch den Film von Welles verdrängt werden, aber daß ein Mann von seinem außergewöhnlichen Talent es wagen darf, Kafkas "Prozeß" mit seinen Augen zu sehen und auf seine Weise - ebenso wie es Verdi und Debussy mit jenen Stoffen taten - frei um- und nachzugestalten, scheint durchaus rechtens. In den kommentierenden Anfangsworten des Films heißt es, die Logik dieser Geschichte sei die eines Traums oder Albtraums, und mit den formalen Mitteln des expressionistischen Films entwickelt Welles nun den Albtraum des von unheimlich-unfaßbaren Mächten verfolgten Josef K. Die Verfolgung kommt nicht mehr, wie letztlich bei Kafka, aus einem metaphysischen Schuldbewußtsein, sondern es sind geheime und doch reale Gewalten, die einem Josef K von 1963 den Prozeß bis zur Hinrichtung machen.
Josef K von 1963 - das dürfte entscheidend sein. Wer einmal heute einem Prozeß beigewohnt hat, von politischen gegen Kriegsverbrecher bis zu zivilen wegen Verkehrsvergehen, macht immer wieder die Erfahrung, wie sehr in unserer säkularisierten Zeit das Schuldbewußtsein verflacht oder gar zerstört ist. Gerade in Landesverratsprozessen zeigt sich stets von neuem, daß die Angst vor dem Terror und seinen Organisationen weit stärker entwickelt ist als das Gefühl, sich schuldig zu machen. Nichts anderes als dies zeigt auch Orson Welles in seinem Film von dem Angestellten K des Jahres 1963, der in das anonyme Räderwerk einer geheimnisvollen Organisation geraten ist. In den religiösen Kafka-"Prozeß"-Deutungen von Max Brod oder von Martin Buber ist das Gewissen des Menschen vor das immerwährende Weltgericht gestellt, in der Kafka-Deutung von Welles dagegen ist das Gewissen längst verloren, und der Terror eines autoritären Regimes und seiner Organisationen liquidiert nun den isolierten, entseelten Menschen. Wenn in der Todesminute des Josef K im Roman noch der Schatten eines Menschen mit weit geöffneten Armen aus einem Fenster des benachbarten Hauses sieht, ehe die Mörder den Dolch in K`s Herzen zweimal umdrehen, gibt es bei Welles für den Sterbenden kein anderes Wesen mehr auf dieser Welt; die Mörder selbst wollen sich keine schmutzigen Hände machen, sondern der Vernichtungsapparat funktioniert heute unpersönlicher - eine Handgranate, die die beiden aus der Entfernung in den Steinbruch werfen, und deren aufsteigender Rauchpilz anzeigt, daß das befohlene Werk ausgeführt ist, und mit dem gewünschten Ergebnis.
Der Film beginnt mit der an sich im neunten (Dom-) Kapitel stehenden Parabel vom Türhüter, als Zeichentrickfilm auf Rastergrund von Alexander Alexejeff und Claire Parker; die beiden zusammen hatten schon vor 30 Jahren in der gleichen Manier den berühmten Kurzfilm "Die Nacht auf dem Kahlen Berge" geschaffen, doch wirkt ihr Stil heute altväterlich und paßt nicht zu der gleich darauf einsetzenden furiosen, immer expressiv übersteigerten Bildsprache von Welles. Manche Szenen entsprechen weitgehend der Kafkaschen Erzählung, bei anderen wieder sind weiter reichende Veränderungen, Vereinfachungen und nicht zuletzt formale Übertreibungen erfolgt. Jener Hang der amerikanischen Kunst zur Ausweitung, zur Aufblähung und zur Maßlosigkeit, der sich in der Literatur auf unterschiedlichem Niveau von William Faulkner bis Margaret Mitchell, in. der Malerei bei Jackson Pollock oder im Film von der Gestik her bei Elia Kazan und in der Länge bei den Monumentalschinken zeigt, hat nun hier bei Welles sich bis ans schier Titanische verloren. Was die Kamera, die Beleuchtung und die Dekoration nur an exaltierten Phantasmagorien hergeben können, eine Anthologie der bis zur formalen Elephantiasis ausgeweiteten filmischen Möglichkeiten - Orson Welles hat sie in diesen Film hineingebracht, und vor allem hat er sie so gemeistert, daß der Film eine geschlossene Form hat und allein schon in dieser Stil-Einheit fesselt und überzeugt.
Anthony Perkins, der den Josef K spielt, hat bisweilen sogar eine physische Ähnlichkeit mit dem wirklichen Franz Kafka. Zu Beginn des Films erwacht er in der bedrückenden Atmosphäre seines Zimmers, in dem durch eine Blickwinkelverschiebung die Decke selbst wie ein herabdrückender Albtraum auf allem zu lasten scheint. Durch unermüdliches Fahren und Schwenken der Kamera läßt Welles den Raum zum gleichsam irrealen Bereich der Abtrennung und Vereinzelung des Menschen werden, und immer kleiner, immer verlorener erscheint dieser Josef K, wenn (mit der verlassenen > Gare d`Orsay in Paris als nicht wiederzuerkennender Kulisse) er durch die riesigen Bürohallen irrt und schließlich unter der Kanzel steht, von der ihm der Sinn jener Parabel vom Türhüter und vom Warten vor dem Tore des Gesetzes erklärt wird. Die Frauen sind in der Darstellung schwach, aber Welles selbst in der Rolle des Advokaten hat das Wesentliche geschafft, als ein Roboter der geheimnisvollen Macht zu erscheinen und dabei doch ein Mensch zu sein. Er spricht dann auch in der Domszene die entscheidenden Worte des ganzen Films, die im Roman dem Priester vorbehalten waren. Und wenn die Stadt, in der sich alles abspielt, nichts vom barocken Alt-Prag der K. u. K.-Zeit mehr hat, sondern eher wie Metropolis oder ein künftiges Babylon wirkt, geht es zuletzt über das antonionihafte Bauland am Stadtrand zu jenem belanglosen Tod, maschinell betrieben, anonym bleibend, der der des Zeitalters der Vernichtungslager und der Atombombe ist.