Vorstellungen
Filmkritik
Zentrale Figur in allen Filmen von Wim Wenders ist immer ein Einsamer, ein Mann auf der Suche nach Freunden, auf der Suche nach sich selbst, ein Mann unterwegs. Wenders` Filme sind auf irgendeine Weise stets "Road Movies" (nicht zufällig so auch der Name seiner Produktionsgesellschaft), seine "Helden" späte Verwandte der einsamen Männer des klassischen amerikanischen Westerns. Das Pferd haben sie mit dem Auto vertauscht, die Prärie mit den Asphaltpisten der Freeways und Landstraßen. Auch wenn Wenders seine Filme in Deutschland ansiedelte, war das melancholische Vorbild der Hawks- und Ford-Western nicht weit, war das Kino seiner Träume stets präsent. Nicht weniger als sechs seiner Filme tragen amerikanische Titel, mehrere spielen in Amerika oder stellen direkte Bezüge zum Amerikanischen her. Es war folgerichtig, daß Wenders versuchen mußte, einmal einen großen Spielfilm ganz in den USA zu drehen, und es war fast zwangsläufig, daß dieser Film alles in sich vereinen mußte, was Wenders` Stil und Gedankenwelt ausmacht. In der Zusammenarbeit mit Coppola ("Hammett") war ihm dies auf Grund der vielfältigen Zwänge des Produktionssystems noch nicht gelungen: "Paris, Texas" ist dieser Film.
Er beginnt dort, wo die Helden der Hawks und Ford zu Hause sind, in der Wüste. Ein bärtiger, von der Sonne ausgetrockneter Mann wirft die Plastikflasche weg, aus der er gerade den letzten Tropfen Wasser getrunken hat. Aber er verschließt sie sorgfältig, bevor er sie fortwirft. In der düsteren Bar eines einsamen kleinen Nestes bricht er über der Theke zusammen. Ein Arzt erweckt ihn in seiner "Klinik" wieder zum Leben, aber der Mann bleibt stumm. Aus den Papieren, die er bei sich trägt, führt die Spur nach Los Angeles, zu seinem Bruder, der dort als Plakatmaler lebt. Der setzt sich ins Flugzeug, mietet ein Auto und fährt damit ans "Ende der Welt", um den seit vier Jahren verschollenen Travis zurückzuholen. Doch der ist längst wieder unterwegs, stumm, aber zielstrebig, als wisse er genau, wohin er wolle, wonach er auf der Suche ist. Der Bruder gabelt ihn irgendwo am Rand der Straße auf, kauft ihm neue Sachen, erzählt ihm von sich und seiner jungen Frau. Erzählt ihm auch, daß Travis` kleiner Sohn jetzt bei ihnen lebt, eines Tages einfach vor ihrer Haustür abgestellt. Es dauert Tage, bis Travis anfängt zu sprechen, dem Bruder ein altes, vergilbtes Foto von einem Stück Wüstenland zeigt: nichts als Erde mit einem Maklerschild drauf. Das Stück Land habe er sich vor Jahren gekauft, erzählt er einsilbig. Es liegt in Paris, einem kleinen Ort in Texas. Warum gerade dort? Weil es Paris, Texas war, wohin sein Vater mit seiner Mutter gefahren war, wo Travis aller Wahrscheinlichkeit nach gezeugt worden ist.
Der Mann, der einst vor vier Jahren seiner Vergangenheit entflohen ist, hat sich auf die Suche nach seinen Wurzeln gemacht, aber die Realität unterbricht diese Wanderschaft, konfrontiert ihn mit seinem früheren Leben. In der Familie des Bruders findet er seinen siebenjährigen Sohn. Sie sind sich gegenseitig fremd, erkennen sich selbst in den Urlaubsfilmen, die der Bruder einst aufgenommen hat, kaum wieder. Aber es beginnt ein langsamer langer Kampf, den Travis um die Zuneigung seines Kindes führt - und den er eines Tages gewinnt. Die beiden machen sich gemeinsam auf, die Mutter zu suchen, von der Travis erfahren hat, daß sie in Houston lebt. Das Kind kennt die Mutter nur noch von Bildern, Travis aus der fast schon verschütteten Erinnerung. Aber sie finden sie, folgen ihrem kleinen roten Auto bis in eine abgelegene, heruntergekommene Gegend. Zum erstenmal seit vier Jahren sieht Travis seine junge, immer noch schöne Frau hinter dem Fenster einer Peep Show wieder. Sie können miteinander sprechen, über ein Telefon; er kann sie durch die Glasscheibe sehen, aber für sie ist das Glas ein Spiegel. Travis wendet sich ab und beginnt zu erzählen, als erzähle er von einem Fremden. Aber es ist ihre Geschichte, die sie hört, die Geschichte ihrer heiteren, ausgelassenen großen Liebe, die in Streit, Mißtrauen und Gewalttätigkeit erstickt worden ist. Travis sagt ihr, wo sie den Jungen finden kann. "Aber eine Familie sind sie dadurch noch lange nicht wieder" (Wenders).
Die Basis des Films ist ein hervorragendes Drehbuch, das der Bühnenautor Sam Shepard geschrieben hat, ein selten kohärentes, geschlossenes Psychogramm einer gescheiterten Ehe. Wenders setzt die Geschichte nicht nur in Bilder um, sondern fügt ihr eine neue Dimension hinzu, durch die sich Charaktere und Landschaften durchdringen, durch die Shepards private Story zur seismographischen Bestandsaufnahme eines Lebensgefühls wird. Noch nie hat sich Wenders so wenig gescheut, Emotionen zu mobilisieren - in seinen Protagonisten wie auch in seinen Zuschauern. Noch nie in seinen Filmen ist aber auch die Konsequenz der langsamen, sich immer wieder Zeit nehmenden Entwicklung von Personen und Konflikten mit so viel Emphase verbunden gewesen. Dieser ganz in Amerika entstandene Film ist gleichzeitig der persönlichste, den Wenders je gemacht hat. Es gibt in ihm keine Zitate, keine Imitationen von Vorbildern, nichts äußerlich Amerikanisches im Sinne von amerikanischem Kino. Und doch lebt und existiert jede einzelne Szene des Films allein aus der amerikanischen Umwelt, in der sie spielt. Nur die Perspektive ist eine andere. Der Film entwickelt eine sehr individuelle Graphik der Bilder (Kamera: Robby Müller), die ihrerseits der Befindlichkeit der Personen entspricht. Die ruhigen Strukturen der endlosen Wüstenlandschaft lösen sich auf in ein auf ganz wenige Schauplätze reduziertes Panorama von Los Angeles, das in seiner Verdichtung auf die wesentlichen Elemente dieser Stadt und ihres Lebensgefühls geniale Züge trägt: das Haus oben am Hang, wo man in der Friedlichkeit der unpersönlich freundschaftlichen Nachbarschaft die geputzten Schuhe auf der Grenzmauer in der Sonne aufreihen kann, während unterhalb der Freeway brodelt und die startenden Flugzeuge ihre Schleifen ziehen. Die Viadukte der sich überkreuzenden Autobahnen lassen Raum für die flüchtige private Idylle, die Betonburgen Houstons und die gläserne Architektur ihrer Hotelbauten hingegen machen das Aufkeimen menschlicher Gefühle zum schönen, aber aussichtslosen Anachronismus. Dieser sehr persönliche ist gleichzeitig ein sehr menschlicher Film, der aus der Liebe für seine Personen kein Hehl macht. Durch die Konsequenz des undramatischen Stils bei der Realisierung dieser in sich immer dramatischer werdenden Geschichte gelingt es Wenders, den Zuschauer auf den nach konventionellen Gesetzen völlig unfilmischen Höhepunkt allmählich vorzubereiten: die Verdichtung des Geschehens und seiner Vorgeschichte in einen halbstündigen Dialog, bei dem die Partner sich nicht sehen können, sie isoliert auf die Ansprache des anderen reagieren - ein schreckliches Sinnbild der Vereinzelung und Entfremdung.