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Filmkritik
Immer wieder umspielt ein Lächeln die Lippen des Protagonisten De Roller (Benoît Magimel). Wobei „umspielen“ vielleicht nicht der richtige Ausdruck ist. Die Oberlippe hebt sich und legt die Zähne frei – ein Lächeln, das weniger Wohlwollen als Überlegenheit kommuniziert. Vielleicht auch eine Aggressivität, die freilich latent bleibt, die De Roller mit seiner relaxten Körpersprache und seiner legeren Hawaiihemd-unterm-cremefarbenen-Jackett-Garderobe möglicherweise selbst nicht bewusst ist.
De Roller schaut aus wie ein Privatier, der es sich mit einem fetten Bankkonto und viel freier Zeit in einem tropischen Paradies bequem gemacht hat; tatsächlich aber ist er der Hochkommissar der französischen Republik auf Tahiti und damit einer der letzten übriggebliebenen offiziellen Repräsentanten der kolonialen Apparate Westeuropas; jener Herrschaftskomplexe, die sich einst weite Teile des Globus unterworfen hatten, inzwischen aber nur noch in vereinzelten Enklaven direkt Macht ausüben. Wie eben auf Tahiti, Teil von Französisch-Polynesien, einem französischen Überseegebiet inmitten des Pazifiks.
Von einem informellen Treffen zum nächsten
Wobei „Macht ausüben“ ebenfalls nur bedingt der richtige Ausdruck ist für das, was De Roller auf Tahiti tut. „Macht ausüben“ impliziert zielstrebiges Handeln; De Roller hingegen scheint sich eher treiben zu lassen, in der höheren Gesellschaft Tahitis und auch in den Bildern des Films „Pacifiction“. Nur selten sieht man ihn in offizieller Funktion agieren. Weitaus öfter folgt man ihm zu informellen Treffen, in Privathäusern, auf Veranden, in Restaurants, besonders oft in einem Nachtclub, in dem ihm alle Türen offen zu stehen scheinen, auch die in den Backstage-Bereich. Die schlanke, ungemein elegante Frau (Pahoa Mahagafanau), die ihn begleitet, mag als persönliche Assistentin in seinem Dienst stehen; tatsächlich scheint De Roller in erster Linie ihre gleichzeitig mondäne und spöttische Präsenz zu genießen.
De Roller kennt jeden und spricht mit jedem, zumeist mit leiser Stimme, in beiläufigem Tonfall. Es geht um dieses und jenes, um Alltagstratsch genauso wie um Politik, mal um Cocktailschirmchen, mal um französische Atom-U-Boote. Die liegen eventuell bereits im Meer auf der Lauer, unweit der Küste, in Vorbereitung neuer Atombombentests, durchaus vergleichbar mit jenen, die Frankreich bis in die 1990er-Jahre bei dem gut 1000 Kilometer entfernten Mururoa-Atoll durchgeführt hatte. Die Erinnerung daran ist in Tahiti noch frisch, die Anspannung dementsprechend groß. De Roller weiß offiziell von nichts und wiegelt ab – wer würde denn ernsthaft das entspannte tropische Inselleben aus dem Gleichgewicht bringen wollen, und dann auch noch ausgerechnet durch eine mutwillig herbeigeführte Kernspaltung radioaktiven Materials?
Gleichwohl wird auch er nervös; immer öfter unternimmt er Kundschaftergänge und -flüge, die freilich keine gesicherten Erkenntnisse bringen. Ein schlanker, schweigsamer Typ mit blondem Haar und Fliegerbrille wiederum ist offensichtlich auf De Roller angesetzt worden und hängt immer wieder beobachtend im Hintergrund der Szene ab.
Nicht unbedingt nichts, aber nicht viel
Und dann passiert: nicht unbedingt nichts, aber doch nicht viel. Dass sich die Gerüchte und Beobachtungen, die rätselhaften Begegnungen und konspirativen Blicke nicht zu einem kohärenten Politthriller zusammenfügen, werden die einen als Befreiung des Blicks, die anderen als eitle, inhaltsleere Spielerei eines Berufsprovokateurs erleben. Noch jeder Film des spanischen Regisseurs Albert Serra hat das Publikum in zwei derart unversöhnlich einander gegenüberstehende Lager gespalten. Dennoch ist diesmal etwas anders. In den bisherigen Filmen Serras bestand die zentrale ästhetische Herausforderung in einer gefühlten Gleichförmigkeit: einen Serra-Film zu sehen, konnte unter anderem bedeuten, eineinhalb Stunden lang den heiligen drei Königen durch magisch leuchtende Schwarz-weiß-Panoramen zu folgen („El cant dels ocells“, 2008), zwei Stunden lang dem französischen Sonnenkönig beim Sterben zuzusehen („Der Tod von Ludwig XIV.“, 2016), knapp zweieinhalb Stunden der nächtlichen Orgie einiger französischer Adliger in einem Waldstück beizuwohnen („Liberté“, 2019).
„Pacifiction“ dauert zwar tatsächlich noch etwas länger, nämlich fast drei Stunden; aber gleichförmig ist der Film keineswegs, zumindest nicht auf der Ebene der szenischen Abfolge. Man sieht De Roller in immer neuen Unterredungen mit immer neuen Gesprächspartner:innen an immer neuen Schauplätzen, man sieht ihn im Auto durch die pazifische Nacht gleiten, im Motorboot über die Wellen rasen, im Privatjet zwischen dem Blau des Himmels und dem Blau des Meeres schweben. Man sieht ihn bei Tag, man sieht ihn bei Nacht, man sieht ihn sehr oft in der Dämmerung, wenn das durchweg spektakulär gestaltete Licht des Films ihn und die Welt um ihn herum besonders warm und weich umschmeichelt. In der vielleicht schönsten von vielen ausgesprochen schönen Einstellungen dieses Films sieht man eine barbusige DJane ihren Körper im entschleunigten Takt elektronischer Musik wiegen; der durchweg fabelhafte Soundtrack stammt von Serras Hauskomponist Marc Verdaguer.
Eine bedrohlich wachsende Welle
Man sieht, anders gesagt, eine sich ständig verändernde Oberfläche, die eine andere, tiefer liegende Bewegung eher zu verbergen als auszudrücken scheint. In einer anderen eindrücklichen Einstellung des Films sieht man eine gigantische Welle, die sich meterhoch auftürmt und einen dann doch nicht erfasst; die zu einem weiteren ästhetischen Spektakel wird, dessen Genuss man sich hingibt; die jedoch, so steht zu vermuten, außerhalb der Bilder dieses Films weiterwachsen und irgendwann von den De Rollers dieser Welt nicht mehr kleinzureden sein wird.