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Filmkritik
Man staunt nicht schlecht über die unerhörte Produktivität von Alexander Kluge. Wenn er, Jahrgang 1932 und also auf dem Weg zum nächsten runden Geburtstag, nicht gerade Bücher wie „Russland Kontainer“ (2020), „Senkblei der Geschichten“ (2020) oder „Napoleon Kommentar“ (2021) publiziert, Ausstellungen mit eigenen Werken in Essen, München, Wien, Ulm, Stuttgart oder Halberstadt kuratiert und seine Fernseharbeiten in immer neue Zusammenhänge stellt, dann findet er immer noch Zeit, um an einem neuen Kinofilm zu arbeiten. Seit einiger Zeit arbeitet Kluge mit dem ungefähr halb so alten philippinischen Künstler und Filmemacher Khavn zusammen, dessen Filmo-, Biblio- und Diskographie kaum zu überblicken ist. 2018 erschien mit „Happy Lamento“ der erste kooperative Spielfilm des Duos, ein wilder, stark assoziativer Mix zweier deutlich voneinander geschiedener Handschriften, weit entfernt von jeder Konvention.
Bei der Premiere von „Happy Lamento“ in Venedig beschlossen Kluge und Khavn den antiken Mythos von Orpheus und Eurydike neu zu verfilmen. Ins Gelingen verliebt wollten die Filmemacher allerdings bei ihrer Revision des Stoffes vermeiden, ein weiteres Mal von der Bestrafung einer ganz natürlichen Liebesgeste des sich versichernden Blicks zu erzählen. Bekanntlich hat Klaus Theweleit diesen Blick als Frauenopfer des Künstler-Mannes interpretiert, der lieber Schmerz in Kunst verwandelt, als die Liebe zu leben. Aber davon ist bei Khavn und Kluge nicht die Rede; hier soll vielmehr erkundet werden, was ein Geschlechtertausch mit dem Mythos macht. Aus Orpheus wird Orphea, aus Eurydike Eurydiko. Kluge erklärt dazu: „Nicht, weil wir abwechseln wollen, sondern weil auf dem Grunde der Mythen ganz andere Geschichten auf ihre Erzählung warten.“
Macht der Liebe und Macht der Musik
Erzählt werden soll von der Macht der Liebe und der Macht der Musik. Und gezeigt wird das Faszinosum Lilith Stangenberg, die sich ganz in den Dienst des Erzählens, der Phantasie, der Assoziationen, der Idiosynkrasien stellt. Mit Haut und Haar, mit Stimme und Abenteuerlust auf eine Tour de Force. Khavn übernimmt dabei mit seiner mittlerweile vertrauten Handschrift aus Punk, Exzess, Körper, mobiler Kamera und Street-Art-Animationen den Teil des Films, in dem die Sängerin Orphea Jesus sich in den Bordellen von Russisch-Manila in Eurydiko verliebt und später im Untergrund den Eingang zum Hades findet. Khavn gestaltet das Ganze als eine Art verschwitztes Rock-Musical voller großartiger Pop-Musik, performt von Stangenberg irgendwo zwischen Björk, Nico und Aldous Harding.
Ist Khavn für Nähe zuständig, so widmet sich Kluge gewitzt dem Panorama. Wenn Orphea Eurydiko retten könnte, könnte sie dann nicht gleich das verlorene utopische Projekt von der „Rückholung aller Toten“ in Angriff nehmen? Schnell ist man bei der Russischen Revolution und einer Biokosmistin, bei Ingmar Bergman, beim „Halbsyrer“ Steve Jobs, beim Silicon Valley, beim Schlangenbiss, bei Ovid und Vergil, kurz: beim Mammut der Phantasie.
Kluge arbeitet mit Inserts, Zwischentiteln, Splitscreens, Blue-Screen, erzählt vom Fluchtmotiv in der europäischen Geschichte. Von Aeneas’ Flucht aus Troja bis zur ungarischen Grenze 1956 – 1989 – 2017: „So viele Lampedusen, an denen Träume enden.“ Bei Kluge reicht die Auswahl der Musik von Monteverdi über Tschaikowski und Purcell bis hin zu Adornos „Rüssel-Mammuts Heimkehr“ (1941). Und Lilith Stangenberg tanzt, singt, schreit, erzählt, deklamiert und staunt dazu. Mehrfach spricht sie sogar mit Kluges sanfter Stimme – und steht klar in der Tradition der stets sehr starken Frauenfiguren in Kluges Filmen: Von Leni Peickert aus „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ über Roswitha Bronski aus „Gelegenheitsarbeit einer Sklavin“ bis Gabi Teichert aus „Deutschland im Herbst“ und „Die Patriotin“. Aber stets ohne Angst, rückhaltlos, volles Risiko.
Hinreißendes sinnlich-intellektuelles Vergnügen
„Orphea“ erzählt Dutzende von Geschichten, ist ein hinreißendes sinnlich-intellektuelles Vergnügen, immer kurz davor, in hemmungsloses Gelächter auszubrechen. Man sollte diesen Film, dieses multimediale Bild-Ton-Performance-Gewitter als Angebot nehmen, sich in Zeiten der Einebnung der Kulturlandschaft aufs Mittelmaß noch einmal den Freuden der intellektuellen Überforderung hinzugeben. Gerne auch, wie bei Godards letztem Film „Bildbuch“, beim wiederholten Sehen.