- RegieKaouther Ben Hania
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2023
- Dauer107 Minuten
- GenreDramaDokumentarfilm
- Cast
- AltersfreigabeFSK 12
- Empfehlung der Jugendfilmjury15 - 99
- IMDb Rating7.4/10 (831) Stimmen
Vorstellungen
Filmkritik
Am Anfang von „Olfas Töchter“ fällt ein Satz, der zwei Dinge ruinieren kann: das Erwachsenwerden, wenn ihn ein Elternteil zu oft zum Kind sagt; oder ein Kunstwerk, das auf Überwältigung setzt. Der Satz heißt: „Du musst fühlen, was ich gefühlt habe.“
Diese Empathie einfordernden, letztlich aber gewalttätigen Worte sagt in dem halbdokumentarischem Filmexperiment von Kaouther Ben Hania die Titelfigur Olfa Hamrouni. Die Tunesierin, geschiedene Mutter von vier Töchtern, wurde 2016 bekannt, als sie öffentlich das Verschwinden ihrer beiden ältesten Kinder Rahma und Ghofrane beklagte. Sie warf dem tunesischen Staat vor, die Teenager nicht an der Ausreise gehindert und auch nicht auf deren Festnahme in Libyen reagiert zu haben. In ihren Augen sieht sie in der Toleranz gegenüber radikalen Imamen einen Grund dafür, dass die jungen Frauen sich in Libyen als Kämpferinnen und Ehefrauen dem IS angeschlossen haben.
Die fehlende oder schützende Distanz
Ihren Schmerz und diese Wut, so verlangt es Olfa nun vor laufender Kamera von der Schauspielerin Hend Sabri, müsse auch sie empfinden, wenn sie im Folgenden in die Rolle der Olfa schlüpft. Sabri, ein Star des tunesischen Kinos, versucht Olfa aufzuklären: Als Schauspielerin habe sie gelernt, „eine gewisse Distanz zu wahren, um mich zu schützen“. Olfa wiederum befiehlt mehr, als dass sie nachhakt: „Was, wenn du das nicht kannst?“ Doch vor allem die echte Olfa wird in der Folge schutzlos ihren Gefühlen ausgesetzt, denn das Reenactment reißt die kaum verheilten Wunden wieder auf.
Mit „Olfas Töchter“ hat die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania einen halbfiktionalen, metadokumentarischen Experimentalfilm gedreht, der letztlich um die Frage des Eindringens in fremde Psychen kreist. Es geht um ungeheuerliche Grenzüberschreitungen im Namen einer höheren Idee: sei es durch die verführerische Propaganda der Radikalen, sei es durch die seit Generationen gewalterfüllte Erziehung von Mädchen, aber auch durch die Kunst des Schauspiels oder das Berührtwerden durch einen Film. Am Beispiel dieser einzelnen, in Zeiten politischer Verwerfungen zerfallenen Familie geht es um Repräsentation und Tilgung einer Leerstelle.
Um diese zu füllen, engagierte Ben Hania außer der Olfa-Darstellerin zwei junge Schauspielerinnen für die Rollen der Verschwundenen: Nour Karoui spielt Rahma, Ichraq Matar spielt Ghofrane. In einem alten Hotel in Tunis, vor samtig dunkelblauen Wänden und auf einem Sofa nebeneinander dicht gedrängt, sitzen zu Beginn die drei Schauspielerinnen, die reale Olfa sowie ihre beiden jüngsten Töchter Eya und Tayssir. Nur selten wagt der durchweg introspektive Film den Gang hinaus, etwa wenn sich die Schauspielerinnen mit Stimmübungen aufwärmen und Olfas reale Töchter kichernd mitmachen.
Sich zum Spiegel werden
In diesem gleichzeitig unpersönlichen wie intimen Raum befragt die Regisseurin die realen Personen und die Schauspielerinnen. Diese wiederum befragen einander, stellen gerührt Ähnlichkeiten fest und korrigieren Redeweisen. In besonders intensiven Momenten sind es die Darstellerinnen, die das Verhalten der Originale hinterfragen. Kameramann Farouk Laaridh schneidet die kontrastreich sich vom Hintergrund abhebenden, im dekorativen Helldunkel ausgeleuchteten Gesichter immer wieder an, etwa wenn die beiden Olfas einander buchstäblich zum Spiegel werden. Die leicht klaustrophobische Unruhe der Bilder findet eine Entsprechung in den Kaskaden drängend-bedrückender Worte.
Kaouther Ben Hania hat sich in der Vergangenheit immer wieder mit realen Geschichten auseinandergesetzt und wurde mit Mockumentarys bekannt. Ihr erster Langfilm „Das Phantom von Tunis“ (2013) erzählte im dokumentarischen Stil von einem Motorradfahrer, der hinterrücks Frauen mit einem Rasiermesser verletzte. Ihr ins Groteske überhöhter Spielfilm „Der Mann, der seine Haut verkaufte“ lehnte sich hingegen nur sehr entfernt an eine reale Geschichte an. Ein syrischer Flüchtling lässt sich darin den Rücken tätowieren und als lebende Leinwand in Galerien ausstellen. In der allzu glatten, ausgestellt zynischen Geschichte gab es allerdings kaum Risse, die den Film jenseits seiner schicken Oberfläche mit Tiefe ausgestattet hätten.
„Olfas Töchter“ hingegen ist einfacher und komplexer zugleich. Ständig suggerieren die Nahaufnahmen, dass man ganz dicht dran ist an – ja, woran eigentlich? An einem besseren Verständnis dafür, wie eine altertümlich konservative, von Gewalt durchdrungene frauenfeindliche Erziehung Teenager in den Extremismus treibt?
Das Zeigen- und Verstehenwollen
Schon 2017 habe sie mit Olfa ein paar Filmaufnahmen gemacht, sagt die Regisseurin, aber sie habe zu jener Zeit noch keine Form gefunden, die Geschichte filmisch zu erzählen. Seit „Olfas Töchter“ 2023 im Wettbewerb in Cannes gezeigt wurde, sorgt der Film für Begeisterung bei der Kritik und beim Publikum. Dabei ist es gar nicht so einfach zu entscheiden, ob man danach wirklich in der Lage ist, „zu fühlen, was Olfa fühlt“, oder zu begreifen, was vielleicht nicht zu begreifen ist. Film darf hier ein Instrument sein, das sein eigenes Verstehen- und Zeigenwollen ausstellt, ohne eine Lösung bieten zu müssen oder zu können. Deshalb hallen die Fragen, die der Film durch seine Form aufwirft, weiter nach und bleibt „Olfas Töchter“ über sein Ende hinaus spannend.