- RegieClaire Simon
- Dauer163 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- TMDb Rating8/10 (5) Stimmen
Vorstellungen
Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
Ein 15-jähriges Mädchen hatte zum ersten Mal Sex mit einem Gleichaltrigen und ist schwanger geworden. Da sie noch Gymnasiastin ist, sucht sie die gynäkologische Abteilung des Pariser Krankenhauses Hôpital Tenon auf – ohne den jugendlichen Vater, der nicht verhütet hat und sich offenbar nicht verantwortlich fühlt – und bittet um eine Abtreibung. Ihre Familiensituation ist kompliziert, denn Stiefmutter und Vater sind wenig erfreut über die Schwangerschaft. Die Jugendliche sitzt in einem kleinen Beratungszimmer und wird von einer Mitarbeiterin des Krankenhauses betreut, die ihr Fragen stellt und sie über ihre Rechte und Pflichten aufklärt, da sie noch minderjährig ist.
Aus demselben Grund filmt Regisseurin Claire Simon die Teenagerin, die die Kapuze ihres rosafarbenen Anoraks über den Kopf gezogen hat, von hinten: um ihre Identität zu schützen. Das sagt einiges über die Art und Weise, wie in dem fast dreistündigen Dokumentarfilm vorgegangen wird. Man sieht etlichen Patientinnen zu, die in die Gynäkologie kommen, weil sie Beschwerden haben, erkrankt sind, künstlich befruchtet werden wollen, kurz vor der Entbindung stehen, ein Kind gebären oder anderweitig Hilfe in Gesundheitsdingen brauchen.
Sanfte, aber bestimmte Anteilnahme
Die erwachsenen Patientinnen in Beratungs- oder Ärztezimmern sind frontal oder von der Seite gefilmt und verhandeln mitunter sehr intime Dinge. Eine junge Frau, ebenfalls schwanger, bittet um die Pille danach und darf eine Tablette gleich einnehmen. Ihr Freund unterstütze sie, sagt sie, und wirkt dabei gefasst. Auch Transpersonen berät man hier wegen unterschiedlicher Anliegen. Ein 17-jähriger Transjugendlicher, der bereits Hormone einnimmt, wird über die bald bevorstehende Operation aufgeklärt, eine fast 60-jährige Transfrau über die Einnahme von Östrogen unterrichtet, das zum Schutz ihrer Knochen neu dosiert werden muss. Der Mitarbeiter in Transfragen unterrichtet die Patientinnen und Patienten kompetent und sachlich und fordert sie auf, kurz die Maske abzunehmen; „Notre corps“ entstand während der Corona-Pandemie. So kann er das Gesicht seiner Gesprächspartner:innen sehen oder sich ein Bild vom Fortschritt oder Zustand ihrer Transition machen.
Bei vielen Patientinnen besteht Aufklärungs- oder Diskussionsbedarf. Einige sind in gesundheitlichen Dingen wenig bewandert, andere verzweifelt. Eine junge Frau mit Endometriose erzählt einem Arzt von ihrem Leiden; der macht ihr sanft, aber bestimmt Hoffnung auf eine Linderung ihrer Schmerzen. Manche Patienten erscheinen mit sehr persönlichen, existenziellen Anliegen, was es umso bemerkenswerter macht, dass sie sich filmen lassen. Männer geben Auskunft über ihre (mangelnde) Fruchtbarkeit, Paare leiden darunter, dass sie keine (weiteren) Kinder bekommen. Der Film beobachtet aber auch, wie eine Laborantin einen Kollegen in die Welt der künstlichen Befruchtung einführt und stolz ist, dass sie Patienten helfen kann, ihren Kinderwunsch zu erfüllen.
Ein weiblicher Kosmos
Am Anfang von „Notre corps“ greift die Regisseurin auch als erzählende Figur ein. Sie kündigt an, dass sie diesen sehr weiblichen Mikrokosmos filmen und von all den gynäkologischen Krankheiten erzählen wolle, die auf dem (Liebes-)Leben, den Hoffnungen und den Wünschen von Frauen lasten. Der Film beschränkt sich danach aber auf eine beobachtende Funktion, zeigt die Interaktion von Patientinnen und medizinischem Personal, dokumentiert allerdings auch Beratungen von Ärzten untereinander.
Nie wird dramatisiert, überschwängliche Musik eingesetzt oder die Privatsphäre der beobachteten Personen verletzt. Denn die Schicksale einzelner Patientinnen sind dramatisch genug. Wenn eine junge Frau erfährt, dass sie Eierstockkrebs hat, oder eine ältere an Brustkrebs erkrankt ist, erschließt sich ihre Tragik auch fürs Publikum. Die Ärzte sind aufrichtig bemüht, operative Eingriffe auf das Notwendigste zu beschränken, doch bei einigen Frauen sind Krankheiten bereits weit fortgeschritten und führen zu Ängsten und Hoffnungslosigkeit.
Auf diese Weise erfährt man einiges über den Klinikalltag und die spezifische Arbeit des Personals, das auch als Berater, Tröster und Seelsorger fungiert und das vom Schicksal mancher Patientinnen ebenfalls mitgenommen ist. Dennoch bleiben die Ärzte, Schwestern und Pfleger professionell; sie belehren nicht und bewerten nicht den Lebenswandel, die Herkunft oder einzelne Entscheidungen ihrer Patientinnen. Als Zuschauer:in erfährt man hier einiges über gelebte Empathie und professionelle Behandlung; man lernt die Fortschritte der Medizin, aber auch ihre Grenzen kennen, wird mit Krankheit, Verfall und nahendem Tod konfrontiert.
Sie erscheint selbst im Bild
Dennoch verhält sich „Notre corps“ den Patient:innen gegenüber immer respektvoll und ist auch für Hypochonder gut zu ertragen. In einer Zeit, wo der Gesundheit und Körperlichkeit von Frauen langsam mehr Beachtung geschenkt wird – sei es in dem Vorhaben, Medikamente endlich auch spezifisch für Frauen zu dosieren oder Endometriose als ernstzunehmendes Leiden anzuerkennen –, leistet „Notre corps“ einen wichtigen, aber nie aufdringlichen filmischen Beitrag. Der Dokumentarfilm hält auch den Kreislauf des Lebens fest, denn Geburten – klassische und solche mit Kaiserschnitten – filmt Claire Simon auf der Geburtenstation ebenfalls.
Am Ende des Films erzählt die Regisseurin von ihrem eigenen Schicksal. Sie erscheint im Bild, denn während der Dreharbeiten ist sie selbst an Krebs erkrankt, hat sich im Krankenhaus Tenon behandeln lassen und ist auf dem Weg der Besserung. So reiht sich die Krankheitsgeschichte von Claire Simon in die der anderen Frauen ein sowie in die Schilderung der Arbeit des Pflegepersonals, das die Sinnhaftigkeit seiner Arbeit tagtäglich erlebt.