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Filmkritik
Ein Mann kehrt nach vierzig Jahren zurück an seinen Geburtsort, den er als Jugendlicher überstürzt verlassen hatte. Die Stadt scheint unverändert, was eine nostalgische Seite zum Klingen bringt. Andererseits existieren offene Rechnungen, die beglichen werden sollten. Was nicht ungefährlich ist, weil es sich bei der Stadt um Neapel handelt.
An Bord des Flugzeugs, mit dem Felice in Neapel landet, wird Arabisch gesprochen. Felice, Mitte 50, kann mitreden. In Neapel angekommen, nimmt er sich ein Hotelzimmer, schließt die teure Armbanduhr in den Zimmersafe ein und flaniert ein wenig durch die Stadt. Ziellos, wie es zunächst scheint. Erst am nächsten Tag besucht er seine alte und kranke Mutter, die er allerdings nicht mehr in der alten Wohnung vorfindet, sondern im heruntergekommenen Erdgeschoss. Die fast blinde Frau macht einen leicht verwahrlosten Eindruck, hat aber offenbar die Wohnungen mit einer erklecklichen Abfindung einvernehmlich getauscht. Felice reagiert zunächst irritiert und erbost, schafft dann jedoch Ordnung: Eine andere, lichtere Wohnung, saubere Kleidung und nicht zuletzt ein achtsam vollzogenes Bad der Hinfälligen zeigen einen fürsorglichen Sohn, der nach langer Abwesenheit nach Hause zurückgekehrt ist.
Im labyrinthischen Stadtteil
Seine Zeit nutzt Felice für lange Streifzüge durch den labyrinthischen Stadtteil Sanità, der etwas weiter vom Meer entfernt ist. Der Heimkehrer lässt sich einfangen von der Atmosphäre der Stadt, den Geräuschen und Gerüchen, den Begegnungen und Beobachtungen, was der Film „Nostalgia“ von Mario Martone dann nicht nur meisterlich gestaltet, sondern zugleich auch noch mit Super-8-Erinnerungsfetzen der Jugend Felices verschneidet. Es ist eine Jugend mit ausgedehnten Motorradausflügen und -rennen, Baden im Meer und Kleinkriminalität. Unterlegt mit einem sehnsüchtigen Song von der ersten Band Edgar Froeses („Tangerine Dream“): „Lady Greengrass“ von The Ones.
Begeistert und zugleich erstaunt berichtet Felice seiner in Kairo gebliebenen Ehefrau, dass sich in Sanità in all den Jahren wenig bis nichts verändert habe. Doch zumindest in den Abendstunden, wenn bewaffnete Jugendbanden auf Motorrädern durch die Straßen marodieren, scheint bei Felice der Panzer der Verklärung brüchig zu werden. Es kommt auch zu Begegnungen mit Menschen, die Felice kennen, an die er sich aber beim besten Willen nicht erinnern kann.
Selten allein in seinen Erinnerungen
Als die Mutter dann stirbt, könnte Felice nach Kairo zurückkehren, aber etwas hält ihn zurück. Denn in seinen Jugenderinnerungen ist Felice selten allein. Zumeist ist er in Begleitung seines besten Freundes Oreste. Der hat Sanità niemals verlassen, sondern wurde zum äußerst gefährlichen und gefürchteten Boss der örtlichen Camorra. Längst hat Oreste von der Rückkehr Felices erfahren und sendet ihm unmissverständliche Signale, dass er die Stadt schleunigst wieder verlassen solle. Wiederholt wird Felice explizit vor Oreste gewarnt.
Bei der Trauerfeier für Felices Mutter kommt dann ein weiterer Akteur ins Spiel: der Priester Don Luigi. Der fungiert in Sanità als Widerpart zu Orestes Machtgefüge, indem er den Jugendlichen alternative Angebote macht und die Verflechtungen zwischen Camorra und den lokalen Behörden öffentlich macht. Zwischen dem Priester und dem Heimgekehrten entwickelt sich ein Vertrauensverhältnis, dass es Felice schließlich auch erlaubt, zu erzählen, warum er einst Neapel so überstürzt verlassen hat. Don Luigi verspricht dieses Geheimnis zu wahren, baut Felice aber als erfolgreich-weltgewandtes „Role Model“ einer Biografie jenseits von Kriminalität und Perspektivlosigkeit auf. Damit aber gerät Felice mitten hinein in die Auseinandersetzung zweier Lager, denn für Oreste stellt er eine Gefahr da. Immerhin: In der Stadt steht Felice unter dem Schutz der Gefolgschaft Don Luigis. Soll Felice darauf vertrauen?
Die kulturellen Codes des Neapolitanischen
Mag sein, dass „Nostalgia“ in seinem mäandernden Erzählen, das eventuell der labyrinthischen Topografie Sanitàs geschuldet ist, ein paar Fäden zu viel liegen lässt. Mag auch sein, dass dem nicht eingeweihten Betrachter des Films ein paar kulturelle Codes des Neapolitanischen nicht vertraut sind und sich manche Blicke, Gesten, Zeichen nicht erschließen. Mag zudem sein, dass die Figur von Oreste etwas zu skizzenhaft bleibt, um dessen Verbitterung plausibel zu machen. Und vielleicht muss man sich die Mühe machen, über den Gebrauch des Begriffs „Nostalgie“ etwas nachzudenken. Der Regisseur Mario Martone hat seinem Film ein etwas kryptisches Motto Pier Paolo Pasolinis vorangestellt, das lautet: „La conoscenza è nella nostalgia. Chi non si è perso non possiede.“ Übersetzt etwa: „Wissen liegt in der Sehnsucht. Wer nicht verloren ist, besitzt nicht.“ Vielleicht muss man dieser Spur nachgehen, wenn man feststellt, dass „Nostalgie“ im Falle der Jugendfreunde Felice und Oreste wenn nicht kontingent ist, so doch zwei Seiten hat: eine produktive und eine destruktive, eine soziale und eine asoziale.
In seinem „Director’s Statement“ zum Film lässt Martone diesen Raum provozierend offen, wenn er schreibt: „Mit der Kamera auf den Schultern begannen wir, durch die Straßen zu gehen. Wir machten eine Begegnung nach der anderen, wir trafen auf Menschen und auf Geschichten, und am Ende drehten wir die letzte Szene und fragten uns, was ihr Sinn sei, und wir konnten ihn nicht finden. Vielleicht gibt es keinen Sinn, vielleicht gab es ihn nie. Es gibt das Labyrinth und es gibt die Sehnsucht (…).“ Vielleicht ist es kein Zufall, dass das Motto dieser filmischen Notizen von Pier Paolo Pasolini stammt, dessen frühe Filme ähnlich mehr der Atmosphäre von Lebenswelten als dem Sinn des Gezeigten verpflichtet sind.