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Filmkritik
Die Ferne ist verheißungsvoll. Dem frisch promovierten Ingenieur Franz Walter steht Mitte der 1970er-Jahre eine einjährige Studienreise ins äthiopische Addis Abeba bevor – und er verhält sich, wie es ein systemtreuer DDR-Bürger nicht tun dürfte. Beim letzten Abend mit seiner Freundin Corina wie auch am Flughafen ist offensichtlich, dass sich sein Bedauern darüber, die DDR hinter sich lassen zu können, sehr in Grenzen hält. Franz Walter ist ehrgeizig, will beruflich nun schnell voran und dabei auch das System zu seinem Vorteil ausnutzen; die Reise ins (verbündete sozialistische) Ausland kann ihm nützlich sein, um auf dem Weg zu einer Hochschulkarriere rascher zu seinem Ziel zu gelangen.
Dem Staatssicherheitsdienst aber sind die Ambitionen des Nachwuchswissenschaftlers nicht verborgen geblieben und so wird nichts aus Walters Reise. Noch vor dem Start aus dem Flugzeug geholt, wird ihm in Aussicht gestellt, schon in Kürze die Nachfolge seiner Professorin antreten zu können. Dafür und bis dahin müsse er seine Talente allerdings zuerst in die „Hauptverwaltung Aufklärung“ einbringen, wie ihm der Staatssicherheitsmitarbeiter Dirk Hartmann eröffnet. Walters erste Aufgabe? – „Den Frieden sichern! – Sektor Fußball!“
Angesetzt auf einen abtrünnigen Fußballer
Regisseurin Franziska Stünkel lässt ihr Historiendrama „Nahschuss“ einen Bereich berühren, in dem das DDR-Regime sich im internationalen Vergleich besonders profilieren wollte und sich daher auch mit besonders unfairen Mitteln Vorteile verschaffte: den Sport. Der Fall, in den Franz Walter hineingezogen wird, ist der eines abtrünnigen Fußballers: Horst Langfeld hat die DDR verlassen und kickt nun für den Hamburger SV – ein Affront in den Augen des ostdeutschen Politapparats. Langfeld freizugeben, kommt nicht in Frage; es gilt, seine Gefühle zu erforschen, insbesondere, was die Trennung von seiner noch im Osten lebenden Frau angeht.
Walter wird in das erprobte Verfahren integriert und erweist sich sofort als gut steuerbar. Von Skrupeln angesichts seines Auftrags ist bei ihm anfangs nichts zu spüren, als Hartmann und er einem Mannschaftskameraden Langfelds eine Agentin aufdrängen und diesen mit den Fotos der Affäre zu Spitzeldiensten erpressen. Auch im Privatleben fügt sich Walter den Erwartungen: Die neue Wohnung nimmt er als willkommenes Geschenk, seinen Eltern verheimlicht er das Wesen seiner neuen Arbeit ebenso wie seiner Freundin, die er nun heiratet, um mit dem Segen seiner Stasi-Vorgesetzten in den Westen fahren zu können. Solange es ein Druckmittel gibt, spricht nichts gegen wiederholten Kontakt mit dem Klassenfeind.
Der Verlust jeglicher Kontrolle
Schon in ihrem Regiedebüt „Vineta“ hatte Franziska Stünkel 2006 von einem Mann erzählt, dem auf einer abgeriegelten Insel bei der Planung einer Zukunftsstadt angesichts der Widersprüche zwischen menschenfreundlichem Anstrich und totalitärer Überwachung zunehmend jegliche Kontrolle entglitt. Auch Franz Walter gelingt es in „Nahschuss“ nur eine Zeitlang, die perfide Gestalt seiner Tätigkeit schönzufärben und auszublenden. Zum Kipppunkt wird für ihn die Entscheidung seiner Vorgesetzten, Langfelds Frau eine falsche Krebsdiagnose zu vermitteln, um ihren Mann sportlich endgültig aus dem Tritt zu bringen.
Walter taucht daraufhin aus seiner Deckung auf, wird unvorsichtiger und versucht, sowohl den Fußballer als auch seine Frau vor der Lüge zu warnen, sein Vertrauen in seine Kollegen schwindet rapide und macht der Gewissheit Platz, von diesen ebenfalls betrogen worden zu sein. Und es bleibt nicht bei einem dumpfen Gefühl der Unzufriedenheit, wie schon von Beginn des Filmes an klar war: Immer wieder hat Stünkel Szenen aus einer zweiten Zeitebene eingefügt, die Walter hinter Gittern und als angeklagten „Volksverräter“ vor Gericht zeigen, nun steuert die Handlung unaufhaltsam auf den Punkt zu, an dem Walter von den gnadenlosen Mühlen des DDR-Justizsystems zermahlen wird.
Die Bildsprache greift den „Tunnelblick“ der Hauptfigur auf
Der Gewissensumschwung erfolgt dramaturgisch etwas abrupt, wird aber durch die einmal mehr hochpräzise Darstellung von Lars Eidinger glaubwürdig, der die egoistische Motivation für Walters Eingliederung in die Stasi-Mitarbeit genauso erfassbar macht wie den Absturz in Schuldgefühle, Frust und Paranoia. Unterstützt wird er dabei von einer ausgefeilten Bildsprache, die den „Tunnelblick“ der Hauptfigur auf der visuellen Ebene verstärkt: Ganz auf Walter ausgerichtet, bleibt die Kamera von Nikolai von Graevenitz eng am Protagonisten und macht den Hintergrund oft nur verschwommen sichtbar, zudem entfernt sie sich auch nicht für Einstellungen, die einen größeren Überblick erlauben würden.
Auch die Außenszenen haben somit einen klaustrophobischen Effekt, der sich in den weit häufigeren Szenen in Innenräumen vervielfacht – über die Bilder wird Franz Walter schon lange in einem Gefängnis verortet, bevor er tatsächlich eingesperrt wird. In der Farbzusammenstellung dominieren Grau- und Khaki-Töne, die den Figuren zuerst noch eine falsche Behaglichkeit in der DDR vermitteln, sich dann aber ebenfalls als Elemente der wachsenden beklemmenden Atmosphäre erweisen.
Schuldhaft verstrickt ins Netz des Regimes
Unter den jüngeren filmischen Auseinandersetzungen mit der DDR ist „Nahschuss“ auch deshalb auffallend, weil er die schuldhafte Verstrickung des Protagonisten nicht aus dem Blick verliert. Franz Walters Bereitschaft zur Verschwörung und Manipulation, auch ohne größere Identifikation mit der sozialistischen Ideologie, machen ihn zur zwiespältigen Figur, was am Mitgefühl mit seinem Schicksal aber nichts ändert. Im Gegenteil: Gerade nach seiner Enttarnung gelingen dem Film seine intensivsten Szenen, wenn Walter Verhaftung, Folter und Schauprozess durchleidet.
Dabei führen die unnachgiebige Härte und Willkür des DDR-Justizsystems, bis hin zum Einsatz der Todesstrafe, in Franziska Stünkels Film nahtlos die zuvor gezeigte Menschenverachtung in den Geheimdienstumtrieben fort. Dass der Regisseurin damit eine ungewöhnlich umfassende und dabei sachliche Darstellung des ostdeutschen Regimes gelungen ist, hebt „Nahschuss“ als Kinofilm über die deutsche Historie auf einen hohen Rang. Und sendet ermutigende Signale des Geschichtsbewusstseins: Mögen die DDR-Zeit und ihre Verbrechen gesellschaftlich etwas aus dem Blick geraten sein, ist die künstlerische Beschäftigung mit ihnen noch längst nicht abgeschlossen.