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Filmkritik
Kaum haben die Wolken vollständig die Berge bedeckt, ist ein markerschütternder Donnerschlag zu hören. Göttlicher Zorn und Ursprung des tragischen Schicksals drücken sich in dem Film von Angela Schanelec durch die Wucht der Natur aus. Das Drama, das sich zeitgleich zwischen einem jungen Mann und einer Frau abspielt, zeigt die Kamera aus so weiter Entfernung, dass die beiden wie hilflose Käfer wirken. Der Donner findet schließlich sein Echo im langen gellenden Schrei des jungen Mannes. Kurz darauf sind beide tot.
Als Adaption der Ödipus-Sage war „Music“ angekündigt, doch die Handlung um den ausgesetzten Königssohn, der unwissend seinen Vater tötet, seine Mutter heiratet und sich, als er sich dessen bewusst wird, die Augen aussticht, sollte man nicht zu genau mit dem Film abgleichen. Die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckende Geschichte von „Music“ handelt zwar ebenfalls von einem Fluch und der daraus resultierenden Erbschuld und greift sogar viele Details des Mythos auf. Doch Schanelec zerstückelt, modernisiert, deutet um und schafft schließlich eines ihrer Kinogedichte, das seinen eigenen Regeln gehorcht.
Ein nicht näher geklärtes Verhältnis
Der Film dreht sich um Jon (Aliocha Schneider), den Sohn des Paares aus der Anfangsszene. Als junger Erwachsener tötet er aus Versehen einen Mann und lernt im Gefängnis die Wärterin Iro (Agathe Bonitzer) kennen und lieben. Zum Verstorbenen hatte sie ein vertrautes, aber nicht näher geklärtes Verhältnis. Dass Jon ihn getötet hat, erfährt sie erst, nachdem die beiden eine Familie gegründet haben. Dann folgt die dritte Tragödie: Iro nimmt sich das Leben.
Die mythische Schwere des Stoffs löst Schanelec in einer hippiemäßig sommerlichen Urlaubsstimmung auf, in der man mit dem VW-Bus zum Strand fährt und gemeinsam Früchte erntet. Die Einstellungen sind oft statisch, das Spiel der Darsteller radikal zurückgenommen und von jeglicher Virtuosität befreit. Aus dieser beherrschten Präsenz entwickelt sich aber eine unter der Oberfläche vibrierende Emotionalität. Berührende Szenen werden dagegen nicht über die schönen, unergründlich melancholischen Gesichter der markanten Darsteller gezeigt, sondern über deren Hände. Mal tröpfeln sie in Großaufnahme Salzwasser über Entzündungen, mal streifen sie sich sanft oder umklammern sich fest vor Ergriffenheit.
Zugleich findet sich auch oft etwas im Bild, das sich dem Zugriff der Regie entzieht: Kinder, die wild drauflosplappern, Tiere wie Mäuse und Echsen sowie das wogende Meer. Es eint diese Elemente nicht nur, dass sich nur bedingt kontrollieren lassen, sondern auch, dass ihnen in dieser Geschichte eine trostspendende Funktion zukommt. Das ständig wiederkehrende Unglück vergisst man in der ersten, fast dialogfreien Hälfte von „Music“ ohnehin fast; so überraschend zärtlich und lebensbejahend wirkt der Film hier. Poesie trifft dabei auf Pragmatismus. Im übertragenen Sinn heilt Iro Jon, indem sie ihm ein Mixtape mit sublimer Barockmusik schenkt. Und sehr konkret, wenn sie ihm für seine an den Füßen wuchernden Pusteln eine Flasche Panthenol aus der Apotheke holt.
Später sieht er gar nichts mehr
„Music“ arbeitet mit Reduktionen, Auslassungen und Doppelungen. Von Spiegeln und Träumen ist einmal die Rede, als die Gefängniswärterinnen versuchen, ein Kreuzworträtsel zu lösen und damit auch Leitmotive des Films erwähnen. Ödipus ist etwa sowohl Jons Vater aus der Anfangsszene wie auch Jon selbst, der zwar nicht mit seiner Mutter schläft, aber mit jedem tragischen Ereignis, das er anzieht, einen Teil seines Augenlichts verliert. Zunächst muss er nur eine Brille tragen, später sieht er gar nichts mehr.
Schanelecs Inszenierung verweigert sich einem herkömmlichen Realismus. Bei über Jahrzehnte reichenden Zeitsprüngen altern die Darsteller, abgesehen von den Kindern, kein bisschen. Aber Zeit ist in „Music“ auch relativ, weil der Film auf endlose Variation und Wiederholung ausgelegt ist. Nach Iros Tod befindet man sich auf einmal in Berlin. Jon hat eine neue Freundin (Miriam Jakob), sitzt nicht mehr an der griechischen Felsenküste, sondern einem grün bewaldeten Tümpel und singt nicht mehr Purcell oder Händel, sondern in meditativ entrückten Folk-Songs über eine Sphäre jenseits von Leben und Tod. Ein Close-Up von Jons Teenager-Tochter legt zudem nahe, dass auch die nächste Generation noch unter dem Fluch leiden wird.
Voller Schönheit und Milde
Der Tragik der Geschichte verleiht Schanelec einen hoffnungsvollen Twist. Das Hauptelement des Films ist Wasser, das nährt, reinigt erfrischt und heilt. Liebe und Musik formieren sich zum Widerstand gegen die Last des Schicksals. Noch bevor Jon auch nur ein Wort geredet hat, singt er im Falsett ein Lied von Iros Mixtape. Die Musik wird für ihn zur neuen Sprache und inmitten des Leids auch immer mehr zum Schlüssel für eine andere Welt voller Schönheit und Milde.