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Filmkritik
Mit einer Rückblende geht es los: Eine Party, drei Freunde, zwei davon Deutsche, die offenbar gerade in Oxford studieren. Es sind die frühen 1930er-Jahre, die Leute sind ausgelassen, trinken Champagner und rauchen. Ein paar Jahre später wird der Schatten eines neuen Krieges über ganz Europa und auch über den ehemaligen Studienfreunden Hugh Legat (George MacKay) und Paul von Hartman (Jannis Niewöhner) liegen. 1938 werden sie sich in München wieder begegnen, als Teil der politischen Delegationen Großbritanniens und Hitlerdeutschlands, die mit anderen europäischen Politikern über ein Abkommen verhandeln, mit dem verhindert werden soll, dass aus der sogenannten Sudetenkrise ein neuer Krieg wird.
„München“ ist ein historischer Politthriller, ein Film über Krisendiplomatie, der in einer vergangenen Epoche angesiedelt ist, dieser durchaus gegenwärtige Seiten abgewinnt und zugleich einige nicht ganz neue, aber nach wie vor fesselnde revisionistische Thesen entwickelt. Letzteres gilt allerdings noch mehr für die zugrundeliegende Buchvorlage, den gleichnamigen Roman des Briten Robert Harris. Schon kurz nach dessen Erscheinen 2017 war von deutschen Produktionsfirmen die Rede, die sich die Verfilmungsrechte gesichert hatten. Lange Zeit war offenbar eine Serie geplant, am Ende entschied man sich für einen Spielfilm, eine deutsch-britische Co-Produktion, bei der Harris als Produzent mit an Bord ist und die sich weitgehend – wenn auch mit einigen markanten Änderungen – an der Vorlage orientiert.
Jeremy Irons als Neville Chamberlain
Nach der Eröffnungsszene springt der Film in den September 1938: Mitten in London werden Splittergräben ausgehoben, Denkmäler und wertvolle Gebäude mit Sandsäcken geschützt – ein Stück Realgeschichte, das in Deutschland oft vergessen wird: Die zweite Hälfte der 1930er-Jahre waren für ganz Europa eine Zeit ununterbrochener Krise und Kriegsdrohung. Bis heute streiten die Historiker über die Bewertung vor allem der damaligen britischen Politik und vor allem des britischen Premierministers Neville Chamberlain, der hier von Jeremy Irons glänzend verkörpert wird. Vielen gilt Chamberlain bis heute als der Inbegriff eines feigen Beschwichtigers, als Narr, bestenfalls großer Naiver im Umgang mit den Diktatoren. Das entspricht der Bewertung auch der Zeitgenossen seit Kriegsausbruch 1939. Zuvor aber wurde seine Außenpolitik selbst von der Opposition unterstützt.
Historisches Hintergrundwissen ist für diesen Film von großem Nutzen, der manches voraussetzt, auf vieles anspielt, aber nur wenig wirklich erklärt. Historische Fakten und Personen mischen sich dabei mit fiktiven Charakteren, die teilweise nach historischen Vorbildern gezeichnet sind. So hat Harris selbst erklärt, dass er die Figur des deutschen Diplomaten Paul von Hartman nach dem anglophilen Widerständler Adam von Trott zu Solz (1882-1944) entworfen hat, dass in diese aber auch bestimmte Erlebnisse und unbelegte Behauptungen des Außenstaatssekretärs Ernst von Weizsäcker (1882-1951) eingeflossen sind, der in Nürnberg als Kriegsverbrecher verurteilt wurde, andererseits immer daran festhielt, er habe lediglich versucht, „Schlimmeres zu verhindern“.
Geschichtsschreibung und Unterhaltungsliteratur
Natürlich ist dies kein Dokumentarfilm. Aber jeder Film, der vor einen realen historischen Hintergrund spielt, noch dazu, wenn es um derart bedeutende und im kollektiven Gedächtnis zumindest rudimentär präsente Ereignisse geht wie das „Münchner Abkommen“, wird sich dem Abgleich mit der Realgeschichte stellen müssen. Es ist die seltene Begabung von Robert Harris, Geschichtsschreibung mit Unterhaltungsliteratur zu verbinden – Harris’ Romane sind exzellent recherchiert, zu den Fakten treten rein fiktive Hauptfiguren. Seit jeher sind Harris’ Romane sehr filmaffin, mehrere wurden verfilmt, in Werken wie „Enigma“, „Der Ghostwriter“ und „Intrige“. Harris’ Helden sind klassische Figuren: Meist Individualisten, die ihrem Gewissen folgen. Das gilt auch für Hugh Legat und Paul von Hartman. Von Hartman sympathisiert mit dem konservativen Widerstand gegen Hitler. Die eigentliche Hauptfigur ist der Brite Legat, aus dessen Perspektive fast alles erzählt ist. Seit kurzem arbeitet er im Büro des Premierministers als einer von dessen Sekretären.
Auf das vor allem unterhaltsame Ausmalen des Historischen setzt auch Regisseur Christian Schwochow. Bereits Harris verstand es, die überaus komplexen und kleinteiligen Ereignisse und Überlegungen rund um das Münchner Abkommen zu einem dichten Ganzen zu bündeln. Schwochow und sein Drehbuchautor Ben Power (der bisher mit der Serie „The Hollow Crown“ bekannt wurde, einer Umsetzung von Skakespeares Königsdramen ins Serienformat) verknappen Harris’ Vorlage noch weiter zu einer Erzählung aus einem Guss, die zunehmende Spannung entfaltet. Was durchaus erstaunlich ist – denn genaugenommen passiert gar nicht so viel, außer dass fortwährend Männer mit Aktenmappen oder im Jackett versteckten Geheimdokumenten von einem Zimmer ins nächste eilen. Und der Ausgang des Münchner Abkommens ist ja allgemein bekannt. Ebenso die Tatsache, dass 1938 auf Hitler kein erfolgreiches Attentat verübt wurde.
Die Spannung liegt indes paradoxerweise in dem, was nicht geschieht: darin, dass man zum einen verstehen möchte, warum bestimmte in der Handlung angelegte Dinge nicht passieren, und wie stattdessen das passiert ist, was in den Geschichtsbüchern steht. Im Roman nehmen innere Monologe der beiden Hauptfiguren breiten Raum ein und erklären auch vieles. Hier ist dies zum Teil in Dialoge verwandelt, oft aber auch weggelassen, was dem Film manchen Reiz nimmt.
Ein bizarrer Adolf-Hitler-Auftritt
Die Zuschauer sind dafür mittendrin in der Konferenz. Und doch zugleich wie meist auch die Protagonisten nur Beobachter der „großen Geschichte“, denn viele bekannte historische Figuren treten kurz auf, bleiben aber schemenhaft. Die Ausnahmen sind Chamberlain und Hitler. Letzterer sollte zunächst von Martin Wuttke gespielt werden, der den deutschen Diktator bereits in Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“ verkörperte. Als Wuttke wieder absprang, übernahm Ulrich Matthes kurzfristig die Rolle. Das Ergebnis ist ein seltsamer, beinahe bizarrer Auftritt: Weil körperliche Ähnlichkeit kaum vorhanden ist, dominiert die Maske in diesem Fall stärker denn je und spitzt die Künstlichkeit und das Groteske, das schon dem historischen Hitler aus heutiger Sicht eigen war, aber auch bereits von manchen Zeitgenossen so wahrgenommen wurde, ins Lächerliche zu. Wo man nicht ohnehin dem Schauspieler bei der konzentrierten Arbeit zusieht, fällt es einem schwer, diesen „Hitler“ ernst zu nehmen. Überzeugend ist das nicht.
Angreifbar ist darüber hinaus zumindest ein Aspekt dieser Hitler-Darstellung, den Regisseur und Drehbuchautor zu verantworten haben: Einige der wenigen Änderungen des Films gegenüber Harris’ Romanvorlage betreffen nämlich zwei Vier-Augen-Treffen von Hartmans mit Hitler. „Ich kann Menschen lesen“, erklärt der Diktator von Hartman mehrfach, und scheint tatsächlich zu spüren, dass er mit seinem potenziellen Mörder im Raum ist: „Ihre Augen sagen ja. Aber ihr Inneres sagt nein.“ Diese kurzen Dialoge mit Hitler hat der Film hinzuerfunden. Man möchte schon wissen, warum ausgerechnet diese Änderung den Machern so sehr am Herzen lag. Einmal mehr strickt damit ein deutscher Regisseur die Hitler-Mythologie weiter, nach der der NS-Führer eine Art „sechsten Sinn“, und eine „magische“, die Umgebung lähmende Kraft gehabt habe.
Eine Ehrenrettung des britischen Premiers
Jeremy Irons gibt seinem Chamberlain viel Würde und Verstand, vom naiven Appeaser bleibt hier nichts übrig. Eher entsteht ein neues Bild, das auf eine Ehrenrettung hinausläuft: Nach diesem war Chamberlain ein kluger, sich der Natur seines kriegslüsternen Gegenübers Hitler sehr bewusster Politiker, der seinem Land ein ganzes Jahr Schonfrist heraushandelte – Zeit, um die Verteidigung vorzubereiten. Dies ist verführerisch, und doch schon fast zu viel der Ehre für einen Mann, der ohne Frage eine differenzierte Darstellung verdient hat und über den Robert Harris bereits 1988 eine BBC-Dokumentation drehte („God bless you Mr. Chamberlain“). Womöglich sind bei „München“ aber die Grenzen historischer Spekulation erreicht.
Vor dem Hintergrund aktueller Krisen und der geopolitischen Konstellation unserer Zeit sind die politischen Pointen von München aber so faszinierend wie herausfordernd: Denn auch heute wird das Suchen nach Kompromissen, das geringste Entgegenkommen gegenüber nicht-demokratischen Herrschern und schon die reine Verhandlungsbereitschaft gern als „Appeasement“ abgetan. „München“ zeigt schlüssig, dass die Dinge komplizierter liegen. Der Film dreht das Argument des „Realismus“ um. Dieser liege gerade im Herausschlagen von Zeit und der Arbeit am diplomatischen Kompromiss. Einen Weltkrieg sei ein „lokaler Grenzkonflikt“ nicht wert.
Alles Übrige ist ein konventioneller Historienfilm, schlicht gestrickte Kolportage und ein paar Schmonzetten am Rand: Zwei, drei Gastronomiebesuche in Berlin und München sind recht mondän geraten – irgendwie war’s wohl doch auch schön im Dritten Reich. Ein richtig guter Film ist „München“ daher nicht, konnte er vielleicht auch nicht werden. Eher handelt es sich um guten Durchschnitt, der auf dem kleineren Heim-Bildschirm besser aufgehoben ist als im Kino. Ein interessanter Film ist er aber sehr wohl: In seiner Form, das Publikum zum Augenzeugen eines weltgeschichtlichen Augenblicks zu machen, in dem verschiedene historische Entwicklungen und bis heute bekannte Figuren in Raum und Zeit verdichtet und durch eine dramatische „Countdown“-Situation zusammengeknüpft werden, erinnert er am ehesten an Roger Donaldsons „Thirteen Days“ über die Kuba-Krise 1962 oder auch an „Operation Walküre“ von Bryan Singer über den 20.Juli 1944. Der Ausgang ist jeweils bekannt, der Spannungsfunke des Moments springt aber auf die Leinwand oder den Bildschirm über.