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Filmkritik
Im Jahr 1906 verlässt die 29-jährige Hanna Leitner überstürzt ihren Gatten und ihre beiden halbwüchsigen Töchter. Sie leidet an Asthma, Angstzuständen und Beklemmung und folgt ihrem Arzt Otto Gross in die Südschweiz. Er hat ihr bei seiner letzten Untersuchung von einer neuen Naturheilanstalt vorgeschwärmt, als dem „schönsten Fleck auf der Erde, an dem Freiheit und Liebe nicht Utopie sind, sondern real gelebt werden“. Gross hat sich selbst nach Monte Verità begeben, um von seinen Süchten loszukommen. Auch Hannas Leiden hängen nicht nur mit ihrer körperlichen Konstitution zusammen, sondern sind ebenso Ausdruck ihrer seelischen und psychischen Not - die Folgen einer in jungen Jahren eingegangenen unglücklichen Ehe.
Der Österreicher Otto Gross, in „Monte Verità – Der Rausch der Freiheit“ von Max Hubacher gespielt wird, ist Psychiater, Arzt und Anarchist. Er wurde 1877 in der Steiermark geboren und starb 1920 in Berlin. 1906 hielt er sich einige Monate in Monte Verità auf, um von seiner Kokainsucht loszukommen. Hanna Leitner hingegen ist nicht aktenkundig. Was ihre Rolle im Film betrifft, heißt es im Nachspann, dass man von vielen in Monte Verità damals entstandenen Fotos nicht wisse, wer sie gemacht habe; sehr wohl könnten sie von einer Frau wie Hanna Leitner stammen.
Fiktive Erzählerin am historischen Ort
Hanna Leitner ist somit eine fiktive Figur und ihre Biografie ist frei erfunden; für das Drehbuch zeichnet Kornelija Naraks verantwortlich. Eine fiktive Figur an einen historisch belegten Ort zu versetzen, ist ein erzählerischer Kniff, um den Blickwinkel eines von außen kommenden, (neutralen) Beobachters einnehmen zu können. Dementsprechend ist der Film auch gebaut. Als Hanna (Maresi Riegner) nach längerer Zugreise in Ascona ankommt, ist sie wenig mehr als eine an Ohnmachtsanfällen leidende junge Frau auf der Flucht vor ihrem Gatten. Sie war jahrelang in ärztlicher Behandlung und verbrachte den größten Teil ihres Lebens in ihrer Wohnung. Dank ihres Gatten, der in Wien ein Fotoatelier betreibt, besitzt sie eine kleine Ahnung von Fotografie, hat aber keine Vorstellung davon, was sie in Monte Verità erwartet.
Sie ist überrascht von den fortschrittlichen Ideen und Vorstellungen der deutschen Feministin Ida Hofmann (1864-1926), welche die Künstlerkolonie und Naturheilanstalt über dem Lago Maggiore zusammen mit ihrem Lebenspartner Henri Oedenkoven (1875-1935), der Berlinerin Lotte Hattemer (1876-1906) sowie den Österreichern Karl und Gusto Gräser um 1900 gegründet hat. Sie kennt weder den aufstrebenden Schriftsteller Hermann Hesse (1877-1962) noch Isadora Duncan (1877-1927), die den Tanz von seinen klassischen Fesseln befreit. Die in Monte Verità zelebrierte Nacktkörperkultur befremdet sie, ebenso wie der Begriff einer persönlichen Freiheit, die auch eine Freiheit in der Sexualität bedeutet. So überstürzt, wie sie einige Tage zuvor Wien verlassen hatte, möchte Hanna nach der ersten Nacht in Monta Verità wieder nach Hause fahren.
Doch sie ist erschöpft und erkrankt schwer. Otto Gross, Lotte Hattemer und Ida Hofmann pflegen sie und tragen das ihre dazu bei, dass Hanna in Monte Verità über Monate und Jahre hängenbleibt. „Etwas hielt mich da zurück“, heißt es in einem Brief, den Hanna Jahre später an ihre inzwischen erwachsenen Töchter Helene und Marie schreibt. Dieser Brief, im Off vorgelesen, bildet das erzählerische Rückgrat des Films, einen losen roten Faden, der in seiner assoziativen Mosaikartigkeit jede Chronologie Lüge zu strafen scheint.
Viele Ideen sind bleibend aktuell
Tatsächlich ist „Monte Verità – Der Rausch der Freiheit“ weniger eine Erzählung über die Emanzipation seiner Protagonistin, als vielmehr eine filmische Beschreibung des titelgebenden Ortes und seiner illustren Bewohner zur damaligen Zeit. Viele der Ideen und Themen, die anklingen, sind heute noch aktuell. Die Anliegen der Feministinnen und die Forderung nach der Gleichberechtigung der Geschlechter, aber auch Forderungen nach gesunder Ernährung, einem Leben in Einklang mit der Natur und die Einsicht, dass körperliche und psychische Gesundheit miteinander verbunden sind. Ausgehend von Lottes Hattemers Freitod 1906 wird auch die Frage der Sterbehilfe aufgegriffen.
Regisseur Stefan Jäger erzählt im Verweis auf das Lebenstempo der damaligen Zeit in bedächtigem Tempo. Ein Foto zu machen – Hanna wird von Ida Hofmann sozusagen zur „Hoffotografin“ bestimmt – ist ein längeres Prozedere. Dabei werden die Personen in Szene gesetzt. Der Fotograf gibt Gesten vor und rückt die Personen zurecht; beim Blick durch die Linse steht die Welt – und damit auch das Filmbild – auf dem Kopf. Im Moment des Abdrückens halten die Abgelichteten den Atem an. Man fotografiert auf Platten; die verwendeten Chemikalien sind explosiv. In einer Gewitternacht lassen Blitz, Donner und eine ungeschickte Bewegung das Fotolabor der Künstlerkolonie in Flammen aufgeben.
Ab und zu beginnt eine Filmszene plötzlich zu verblassen und endet in einem schwarz-weißen Standbild. Das ist eine hübsche ästhetische Spielerei, Ausdruck auch einer flüchtigen Erzählweise, die etwas antippt, für einen Moment aufscheinen und wieder verblassen lässt, um sich im nächsten Augenblick unvermittelt anderem zuzuwenden; vieles in „Monte Verità – Der Rausch der Freiheit“ ist wenig mehr als ein kurzes Zitat, ein flüchtiger Eindruck. Der Film eröffnet sich als eine Art schillerndes Panoptikum und der Effekt, der sich dabei einstellt, ähnelt dem beim schnellen Durchblättern eines Fotoalbums.
Schöne Bilder, krasse Not
Die präzise Inszenierung und die statische Schönheit der Bilder stehen dabei oft in starken Kontrast zum Erzählten: der Not einer von ihrem Mann missbrauchten Frau, die düsteren Gedanken einer 30-Jährigen, die schließlich zu Gift greift, die finanziell angespannte Situation der Kolonie, der Umstand, dass deren Bewohner bei den Einheimischen nicht unbedingt gern gesehen sind.
„Monte Verità – Der Rausch der Freiheit“ wurde zum Teil im Maggiatal im Tessin in sorgfältigen Nachbauten der Kolonie gedreht und fasziniert in vielem. Der Film ist ausnehmend gut besetzt; in weiteren Rollen spielen Hannah Herzsprung (Hattemer), Julia Jentsch (Hofmann) und Joel Basman (Hesse). Er vermittelt eindrücklich, was den Reiz der damaligen Künstlerkolonie und Naturheilanstalt Monte Verità ausgemacht haben mag. Doch die Inszenierung verpasst es, in der Tiefe zu gehen und die Gedanken und Ideen der damaligen Aussteiger und Reformer auszuformulieren; auch historisch ist der Film nicht wirklich akkurat. Bei einem Projekt, das mit so viel Aufwand betrieben wurde, ist das dann doch etwas bedauerlich.