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Filmkritik
Seit einigen Jahren schon spezialisiert sich Woody Allen in seinen Filmen auf die Begegnung von US-amerikanischen Touristen mit europäischen Metropolen bzw. ihren Postkarten-klischeehaften Abbildern. Nachdem in „Vicky Cristina Barcelona“ (fd 39 023) zwei Freundinnen auf ihrer Spanien-Reise mit allen erdenklichen kulturellen Stereotypen zu tun und zu kämpfen hatten, von Gaudí und Miró über Flamenco bis zum leidenschaftlichen Liebhaber und seiner heißblütigen Ex-Geliebten, lässt Allen nun einen verträumten Hollywood-Drehbuchautor auf die Stadt Paris los – insbesondere aufs legendäre Paris der 1920er-Jahre, auf eine Dekade, die wie kaum eine andere für die Hochzeit der künstlerischen Produktion und des ausschweifenden Lebensstils steht. „Midnight in Paris“ beginnt ganz Allen-typisch mit Postkartenansichten von Paris, wie sie kaum banaler sein könnten: Notre Dame, Louvre, Eiffelturm, Parc du Luxembourg, die Bistrots, das Seine-Ufer. Diese austauschbare Bildabfolge wird dabei, ebenso Allen-typisch, von plätschernden Jazz-Klängen begleitet, was sofort einen distanziert-ironischen Unterton etabliert; denn so sehr Allen auch von den gängigen Paris-Klischees infiziert sein mag, kann er sich doch ebenso darüber lustig machen. „Midnight in Paris“ ist daher beides: Liebeserklärung und die Demontage derselben. Mit seinem Protagonisten Gil hat Allen eine ideale Figur kreiert, die das Paris der „Roaring Twenties“ in extrem verdichteter Form aufleben lässt, bis hin zur Karikatur. Amerikaner in Paris: Das sind der Romantiker Gil, seine bodenständige Verlobte Inez und deren erzkonservative Eltern, die nicht allzu viel von ihrem zukünftigen Schwiegersohn halten. Die Interessen gehen schnell auseinander. Während Inez beflissen das Touristen-Programm absolviert und sich von einer alten Bekanntschaft, einem dauerdozierenden Kulturgockel, beeindrucken lässt, ist Gil auf der Suche nach dem vergangenen Paris – vor allem nach den verborgenen Spuren des literarischen Lebens, denn eigentlich verabscheut er seinen Beruf und träumt von einem Leben als freier Schriftsteller. Bei einem einsamen nächtlichen Spaziergang geschieht ein Wunder: Gil wird in eine Limousine gebeten und direkt ins Paris der 1920er-Jahre befördert. Kaum hat er in einer Bar Zelda und Scott Fitzgerald kennen gelernt, während Cole Porter dabei auf dem Klavier klimpert, platzt auch schon Hemingway herein, der ihn sofort mit in den Salon von Gertrude Stein nimmt, wo Gil auf die ehemalige Geliebte von Modigliani und aktuelle Muse von Picasso trifft. Das nächtliche Wunder wiederholt sich an den folgenden Tagen, und auf diese Weise bekommen sie alle ihren Auftritt: Picasso, Man Ray, Salvador Dalí und Luis Buñuel. Woody Allen macht sich einen Spaß daraus, sämtliche Größen, die nach dem Ersten Weltkrieg das kulturelle Leben in Paris prägten, nach dem Celebrity-Prinzip einmal kurz auftreten zu lassen und aus ihrem stereotypen Image eine Revue-Nummer zu machen. Was ebenso blödsinnig wie lustig ist: Hemingway schwadroniert von Männlichkeit und Ehre, Zelda Fitzgerald performt ihre Borderline-Störung, Dalí gibt den exzentrischen Surrealisten und fabuliert von irgendeinem Rhinozeros, Gertrude Stein erteilt literarische Ratschläge. Natürlich erzeugt der Zeitsprung einige Kommunikationsschwierigkeiten, von denen der im Grunde überaus konventionelle Gil jedoch erheblich profitiert – sein Wissens- bzw. Zeitvorsprung wird nämlich gerne auch mal als avantgardistisch ausgelegt. So lobt Gertrude Stein seinen Roman über den Besitzer eines „Nostalgie-Shops“ aufgrund seiner Science-Fiction-Elemente, und der Hollywood-Autor kann den Surrealisten schließlich sogar noch einige gute künstlerische Ideen mit auf den Weg geben. Während die äußere Realität mit Inez zunehmend in sich zusammenfällt, blüht Gil in den 1920-ern regelrecht auf und findet zu seiner eigentlichen Bestimmung. Allen treibt das Spiel mit dem eskapistischen Begehren allerdings noch ein Stück weiter, wenn er Gil auf eine weitere Zeitreise schickt. Durch die Romanze mit der Künstlermuse Adriana, die ihrerseits ein nostalgisches Verhältnis zur Vergangenheit hat, begibt er sich auch noch ins Zeitalter der Belle Epoque. Dort geht das Name-Dropping weiter: Gil trifft auf Künstler wie Toulouse-Lautrec und Matisse, die wiederum über ihr Zeitalter jammern und stattdessen von der Renaissance schwärmen. Das Schöne an „Midnight in Paris“ ist wie auch schon bei Allens vorherigen Realitätsverschiebungsfilmen – etwa „The Purple Rose of Cairo“ (fd 25 282) –, mit welcher Leichtigkeit und Ökonomie der Regisseur alternative Wirklichkeitsebenen etabliert. Es scheint schlichtweg egal zu sein, ob es sich dabei um eine Zeitreise handelt oder um einen schönen Traum – als eine Erfahrung ist sie allemal stark genug, um es mit der Wirklichkeit aufzunehmen. Dass Gil am Ende die Augen für die Gegenwart geöffnet werden und er das zeitgenössische Paris erstmals richtig bei einem Spaziergang im Regen erfahren darf, macht den Film nur auf den ersten Blick zu einem kleinen anti-nostalgischen Lehrstück. Schließlich landet er doch wieder nur in einem gängigen Postkartenmotiv.