Vorstellungen
Filmkritik
Arm, aber glücklich: So fantasiert man im Westen gerne über das Königreich Bhutan. Ein esoterisches Wunschbild vom unbeschwerten Leben ohne Luxus, dem man sich mit einem Glas Rotwein in der Hand vor dem virtuellen Kaminfeuer nur allzu bereitwillig hingibt.
Tatsächlich ist das Grundrecht auf Glück in der Verfassung von Bhutan verankert; allerdings zählt das Streben nach Glück ja auch in den USA zu den unveräußerlichen Rechten. Und obwohl Bhutan in der staatlichen Statistik zum Bruttonationalglück stets beachtliche Werte erzielt, wollen viele junge Menschen von dort vor allem eins: weg.
Der bhutanische Filmemacher Pawo Choyning Dorji erzählt in „Lunana – Das Glück liegt im Himalaya“ die Geschichte eines solchen jungen Mannes. Dabei entkräftet er zunächst die westlichen Stereotype über sein Land, wie sie etwa auch im kitschigen deutschen Untertitel anklingen, ehe er sie im weiteren Verlauf dann doch wieder bestärkt. „Lunana: A Yak in the Classroom“ lautet der Originaltitel des Films, weil das Klassenzimmer darin vorübergehend auch als Stall für einen Yak dient.
Lieber heute als morgen
Für den Protagonisten, den jungen Lehrer Ugyen, ist Glück anfangs kaum mehr als ein Spruch auf seinem Shirt. „Gross National Happiness“ steht da auf die Rückseite gedruckt. Man könnte sagen, dass Ugyen dem Nationalglück buchstäblich den Rücken kehrt. Sein persönliches Glück sucht Ugyen, der bei seiner Großmutter lebt, lieber in Australien. Ein Visum hat er längst beantragt. Er träumt von einer Karriere als Sänger, tritt abends in den Bars der Hauptstadt Thimphu auf und würde seinen Beruf als Lehrer lieber heute als morgen an den Nagel hängen.
Von den fünf Jahren, für die er sich für den Schuldienst verpflichtet hat, muss er nur eines ableisten. Das soll er nach dem Willen der Schulbehörde ausgerechnet in Lunana verbringen, der abgelegensten Schule Bhutans und womöglich der ganzen Welt. Gerade mal 56 Einwohner zählt das auf 4.800 Metern gelegene Gletscherdorf. Man erreicht es erst nach einem achttägigen Fußmarsch. Strom gibt es dort nur, wenn die Sonne scheint. An Telefon oder Internet ist gar nicht erst zu denken. Für Ugyen ist das eine Horrorvorstellung. Sein Einwand, dass er mit der Höhe nicht zurechtkäme, weist seine Vorgesetzte brüsk zurück: „Sie sind Bhutaner, sie haben kein Höhenproblem, sie haben ein Einstellungsproblem.“
Widerwillig macht sich Ugyen auf den Weg. In der letzten Siedlung, die noch mit dem Bus zu erreichen ist, wird er von Michen, einem Yakhirten aus Lunana, empfangen. Gemeinsam mit einem weiteren Dorfbewohner soll er den Lehrer nach Lunana begleiten. Ugyen deckt sich extra noch mit Wanderschuhen aus Gore-Tex ein, wie sie „Brad Pitt und Leonardo“ tragen, wenn man der prahlerischen Verkäuferin glaubt. „Ist der Weg schwierig?“, möchte Ugyen wissen, woraufhin Michen ihn wortreich beruhigt: „Nein, ganz einfach. Die ersten sechs Tage sind ein Spaziergang am Fluss, dann ein kleiner Anstieg. Oben angelangt, ist der Weg so angenehm, dass sie sich wünschen, er möge nie aufhören.“ In Wirklichkeit geht es die ganze Zeit steil bergauf, und natürlich sind Ugyens Schuhe im Gegensatz zu den einfachen Gummistiefeln seiner Begleiter alles andere als wasserdicht.
Papier statt Laub
Regisseur Pawo Choyning Dorji präsentiert den Kulturschock, den Ugyen erlebt, mit leisem Humor, nicht ganz frei von Klischees und doch zugleich nahe an der Wirklichkeit. Sherab Dorji, der charismatisch zurückhaltende Darsteller von Ugyen, stammt wie der Regisseur aus Thimphu, der Hauptstadt Bhutans mit etwas mehr als 100.000 Einwohnern, in der westliche Einflüsse allgegenwärtig sind. Viele der Dorfbewohner, die Ugyen nach über einer Woche auf freiem Feld empfangen, um das letzte Stück Weg gemeinsam mit ihm zurückzulegen, spielen dagegen sich selbst. Gedreht wurde im realen Lunana in einem Hochgebirgstal an der Grenze zu Tibet.
Als Ugyen dort ankommt und ihm der Dorfvorsteher voller Stolz die Hütte präsentiert, in der er wohnen soll, erklärt Ugyen kurzerhand, dass er es hier auf keinen Fall bis zum Winter aushalten werde; und das, obwohl die Dorfbewohner extra für ihn Toilettenpapier hochgeschleppt haben, damit er kein Laub benutzen muss. Enttäuscht, aber freundlich verspricht der Vorsteher, dass seine Männer ihn schon in ein paar Tagen wieder zurückbringen würden, sobald sie sich erholt hätten. Doch nachdem Ugyen seine kleinen Primaner, allen voran die aufgeweckte Pem Zam, kennengelernt hat, überlegt er es sich anders.
Die Widersprüche werden benannt
Pem Zam möchte selbst einmal Lehrerin werden, weil, so heißt es im Dorf, ein Lehrer „die Zukunft berühre“. Auch das Dorfoberhaupt erklärt Ugyen, wie wichtig der Unterricht sei, damit die Kinder später einmal etwas anderes sein könnten als Yakhirten. Als er von Ugyens Australien-Plänen erfährt, stellt er vielsagend fest: „Ich habe gehört, dass viele uns für das glücklichste Land der Welt halten. Aber sie, jemand der gebildet ist, der dem Land dienen kann, der die Zukunft unseres Landes ist, sie wollen das Glück woanders suchen?“
Obwohl der Film diesen Widerspruch offen benennt, geht er ihm doch nie richtig nach. Stattdessen neigt „Lunana“ dazu, das einfache, natürliche Leben aus der kulturellen Distanz des Wohlfühlkinos zu verklären. Dass die neunjährige Pem Zam aus schwierigen Verhältnissen stammt und deshalb bei ihrer Großmutter lebt, wird nur am Rande erwähnt. In einer Szene hockt ihr Vater betrunken auf dem Boden, was aber eher komisch als bedrückend wirkt.
C wie Cow
In wundervollen Panoramen einer überwältigend schönen Landschaft offenbart „Lunana“ die poetische Kraft eines Lebens im Einklang mit der Natur, das auch auf den anfangs ständig missgelaunten Ugyen bald eine befreiende Wirkung ausübt. Er spielt mit den Kindern, sammelt Yakmist, um den Ofen anzufeuern, und fühlt sich zur eigenwilligen Saldon hingezogen, mit der er vor der Kulisse des Himalayas einen traditionellen Gesang einübt. Wenn er dann den Kindern in der Schule englische Vokabeln beibringt, scheint es beinahe, als buchstabiere er das Glück: A wie Apple, B wie Ball und C wie ... Car, will Ugyen zunächst an die improvisierte Tafel schreiben, streicht das Wort dann aber durch und ersetzt es durch Cow, weil keines der Kinder weiß, was ein Auto ist.