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Filmkritik
Der Roman „Lonely Castle in the Mirror“ von Mizuki Tsujimura beginnt mit der Definition des japanischen Worts „Kojō“, was so viel wie „einsames Schloss“ heißt. Da es aber verschiedene Formen von Einsamkeit gibt, hat auch der Begriff mehrere Bedeutungen: Er kann eine für sich stehende, abgeschiedene Festung meinen, aber auch eine von Feinden umzingelte, für die alle Hoffnung auf Unterstützung vergeblich ist. Einsam ist, wer Distanz hält, aber auch, wer auf Distanz gehalten wird.
Auch in der Filmversion von Regisseur Keiichi Hara zeigt „Lonely Castle in the Mirror“ belagerte Menschen, umringt von Mauern, die vor Barbaren schützen, aber auch sonst niemanden an sie heranlassen. Es ist eine Geschichte über Mobbing an Schulen, nicht allein als Akt der Gewalt, sondern vor allem als aktive Isolation von Menschen. Etwa die der Mittelschülerin Kokoro Anzai, die sich vor der Gewalt ihrer Klassenkameraden in ihr Zimmer verkriecht. Ihrer Mutter erzählt sie, sie hätte Magenschmerzen.
Einen Rückzugsort finden
Für eine kurze Zeit begleitet der Film Kokoro durch ihren trostlosen Alltag – Fernsehen, Essen, in die Leere starren. Dann beginnt plötzlich der große Standspiegel in ihrem Zimmer geheimnisvoll zu glimmen und trägt sie in eine andere Welt, wo sie von der enigmatischen Wolfskönigin begrüßt wird. Kokoro ist die letzte von sieben Teenagern, die an einem Spiel teilnehmen sollen. Bis zum März des kommenden Jahres haben sie Zeit, um in ihrer Festung einen Schlüssel zu finden. Wer ihn entdeckt, dem wird ein Herzenswunsch erfüllt.
Die Gruppe besteht aus lauter Einzelgängern, die sich nach und nach anfreunden. Wichtiger als ihre Aufgabe ist dabei, dass sie einen neutralen Rückzugsort gefunden haben. Weil man die Festung nur tagsüber betreten darf, wird schnell deutlich, dass viele von ihnen in der Schule fehlen. Jeder und jede trägt eine Last mit in das Schloss, von der an ihrer strengen Mutter verzweifelnden Fuka bis hin zu Rino, dessen Schwester schwer krank ist.
Die Festung wird auch zu einem Raum, in dem sie sich anderen Menschen gegenüber öffnen können; nach und nach entblättern sich die Leben der Figuren. Kokoros Dilemma offenbart sich in Rückblenden; die Vergangenheit spielt dabei eine immer größere Rolle. Die Montage von Shigeru Nishiyama verschränkt Zeitebenen miteinander, um das visuell und narrativ schlichte Grundgerüst des Films zunehmend komplexer zu gestalten.
Die Gegen- und Parallelwelten des populären japanischen Subgenres Isekai, in dem durchschnittliche Menschen in magische Welten transportiert werden, folgen heute oft klar vorgeschriebenen Regeln. In den letzten Jahren nahmen sie oft die Gestalt von Videospielen an, etwa in Serien wie „Sword Art Online“, „Trapped In A Dating Sim“, „Log Horizon“ oder „I’m Standing on a Million Lives“. Spiele reduzieren die Komplexität der Welt auf einen überschaubaren Katalog von Regeln; Erfolg und Scheitern werden an klar ersichtliche Konditionen gebunden.
Gegenwelt bieten nur temporären Schutz
Doch in „Lonely Castle in the Mirror“ ist das Wesen der neuen Welt schwerer zu ergründen. Ist sie das Ergebnis von Einbildungskraft? Handelt es sich um Magie oder doch nur um ein besonders komplexes Videogame? Das legt die Bedeutung von Konsolen- und Brettspielen für die Figuren nahe, aber auch die simple 3D-Animation, mit dem die Burg gerendert wird.
Ganz unabhängig von der tatsächlichen Antwort besitzt die Burg eine eindrückliche metaphorische Kraft. Sie verkörpert Fiktionen, Subkulturen und alle möglichen Schutzräume, die von den vereinzelten Figuren aufgesucht werden, um danach neu gewappnet einer feindseligen Welt gegenüberzutreten. Zimmer, die den im Weltschmerz vereinten Jugendlichen die Chance eröffnen, aus den bestehenden Verhältnissen herauszutreten.
Im späteren Verlauf von „Lonely Castle in the Mirror“ treten die Science-Fiction- und Horror-Element der Geschichte deutlicher hervor. Anspielungen auf klassische Märchen wie Rotkäppchen präsentieren sich in düsterer Form. Die Gegenwelten der Fiktion bieten dabei nur temporären Schutz. Der Weg ins Leben führt durch sie hindurch; ihre Prüfungen offenbaren sich als Übergangsriten.
Historisch gesehen wurde dafür jedes neue Medium problematisiert – man denke nur daran, als wie gefährlich das Romanlesen im 18. und 19. Jahrhundert galt, perfekt zusammengefasst in den Tagträumen der Emma aus „Madame Bovary“.
„Lonely Castle in the Mirror“ wirkt wie eine Version dieser Erzählung für eine Gegenwart, in der auch in den virtuellen Räumen der Onlinespiele oder sozialen Medien manchmal echte Freundschaften entstehen. Was passiert mit Einsamkeit in einer Zeit, die permanent die Nähe einer großen Zahl von Menschen simuliert und in der auch ein völlig verstummter Mensch unentwegt kommunizieren muss/kann/darf? Wie sollen insbesondere Jugendliche damit umgehen, die fast zwangsläufig zwischen Welten erwachsen werden?
Schumanns „Träumerei“ als Kontrapunkt
Die Figurenzeichnung in „Lonely Castle in the Mirror“ ist dabei nicht übermäßig komplex. Doch wie in der Jugendbuch-Vorlage geling es, eine verzweifelte Dringlichkeit darzustellen. Vermeintlich Triviales erlebt man als Heranwachsender bisweilen mit der Drastik epochaler Tragödien. Die starke melodramatische Tendenz der Geschichte drückt sich vor allem in der zunehmend dominanten Musik aus. Neben etwas grellen Rührstücken und J-Pop-Zuckerkügelchen enthält der Soundtrack auch Schumanns bekanntes Klavierstück „Träumerei“ aus seinem Klavierzyklus „Kinderszenen“. Die Romantik idealisierte die Kindheit als Gegenraum zum verdorbenen Erwachsenenalter; jeder Ton evoziert lichtdurchflutete Spielzimmer und eine längst vergessene Harmonie. Ein musikalischer Kontrapunkt zur düsteren Erzählung.
In der Erforschung der Vergangenheit findet die Geschichte kein verlorenes Paradies, sondern vor allem Kontinuität. Es gab immer Einsame mit der Sehnsucht nach Weltflucht, es gab immer Schutzräume am Rand des Realen. Dafür gibt es ein eindringliches Bild: Kokoro muss, um jemanden zu retten, durch Hunderte von Spiegelbildern ihrer selbst laufen. Sie ist schon deshalb nicht allein, weil es Hunderte wie sie gibt. Wer soll diese Legionen belagern?