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Filmplakat von Living - Einmal wirklich leben

Living - Einmal wirklich leben

102 min | Drama, Historie | FSK 6
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Großbritannien, 1953: Das vom Zweiten Weltkrieg zerstörte London ist noch immer im Begriff, sich von den Spuren der Zerstörung zu erholen. Williams, ein hochrangiger Beamter des London County Council, ist ein ohnmächtiges Rädchen in der bürokratischen Stadt, die um den Wiederaufbau kämpft. Im Büro unter Papierkram begraben, hat sich sein Leben lange leer und bedeutungslos angefühlt. Mit dem Erhalt einer erschütternden medizinischen Diagnose ändert sich plötzlich sein gesamtes Leben. Die Diagnose, Krebs im Endstadium, zwingt ihm dazu, sein Leben zu überdenken. Er fasst den Entschluss, seine Ersparnisse abzuheben und zu einem idyllischen Badeort zu fahren, um seinen letzten Lebensabschnitt zu beginnen, den er sich mithilfe von zahlreichen Schlafmitteln so schnell wie möglich herbeiwünscht. Als er auf den fremden Mr. Sutherland trifft, kommt plötzlich jedoch alles anders.

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Filmkritik

Muss man als Mensch ein Vermächtnis hinterlassen? Gilt ein Leben als weniger wert oder gar verpfuscht, wenn man sich zwar stets an alle Regeln gehalten, seine Existenz auf Erden aber nicht richtig genossen hat? Mit diesen Fragen sieht sich der etwa 70-jährige Witwer Rodney Williams konfrontiert, nachdem er eine niederschmetternde Diagnose erhalten hat. Sein Hausarzt teilt ihm mit, dass er an Krebs im Endstadium leidet und nur noch wenige Monate zu leben hat. Williams, den der große englische Schauspieler Bill Nighy mit viel Zurückhaltung und doch ebenso viel Gefühl gibt, ist leitender Beamter in der Abteilung für die Vergabe öffentlicher Bauaufträge der London County Hall. Wir schreiben in „Living – Einmal wirklich leben“ das Jahr 1953, acht Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, in einem England, das noch den strengen Geist des Britischen Empire verströmt.

Jeden Morgen besteigt Mister Williams – im Streifenanzug und mit Regenschirm und Melone – in seinem Vorort in Surrey den Zug nach London. Auf dem Gleis des Bahnhofs Waterloo angekommen, schließt er sich seinen Angestellten an. Sie saßen im selben Zug, aber in einem anderen Abteil, nennen Williams untereinander halb scherzend „the Old Man“, grüßen ihn dann aber gehorsam. Denn im Büro, das sie zu acht Mitarbeitern bevölkern, herrscht eine eindeutige Rangordnung. Am oberen Ende des Arbeitstischs sitzt Mr. Williams, stets in seine Arbeit vertieft. Gelegentlich gibt er höfliche, aber eindeutige Befehle an seine Mitarbeiter, die diese beflissen ausführen.

Aktenverschieberei und Aufschübe

Das lernt der neue Mitarbeiter im Büro, Peter Wakeling (Alex Sharp), bereits am ersten Tag. Er lernt ebenfalls, dass die verschiedenen Abteilungen der Behörde sich gegenseitig die Akten zuschieben und Anliegen öfter verhindern als ermöglichen. So passiert der Antrag dreier Frauen auf die Errichtung eines Spielplatzes auf einem zerbombten städtischen Areal fünf Abteilungen – und landet doch wieder auf einem Aktenberg in Williams’ Büro. Wenn sich bei den Mitarbeitern die Akten stapeln, egal, ob bearbeitet oder nicht, gelte das als Zeichen von Fleiß, informiert die junge Angestellte Margaret Harris (Aimee Lou Wood) den Neuen verschmitzt.

Eines Tages erscheint Mister Williams jedoch nicht im Büro – ein Novum, das für Aufruhr unter seinen Mitarbeitern sorgt. Was sie nicht ahnen können: Williams hat nach seiner ärztlichen Diagnose buchstäblich das Weite gesucht und ist mit dem Zug nach Brighton gefahren. Die Küstenstadt am Ärmelkanal ist für ihr Nachtleben bekannt, und Williams möchte sich, nachdem er Gedanken an einen Selbstmord verworfen hat, dort amüsieren, auch wenn er gar nicht weiß, wie das geht. Der trinkfeste Schriftsteller Sutherland (Tom Burke) wird Williams in das Nachtleben der Stadt einführen und mit ihm die Kneipen und Kabaretts abklappern. Am nächsten Tag fährt Williams nach London zurück, immerhin mit neuem Hut, schwänzt aber immer noch das Büro. Auf der Straße trifft er die lebhafte Margaret. Sie ist die Einzige, die ihm zuhört, die ihn ermahnt, seine Arbeit wieder aufzunehmen und der er sich schließlich anvertraut.

Von Japan in ein England der Klassengesellschaft

„Living – Einmal wirklich leben“ ist eine Adaption von Akira Kurosawas Drama „Ikiru“, für die Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro das Drehbuch geschrieben hat. Regisseur Oliver Hermanus hat daraus einen leisen, wehmütigen Film gedreht, der nie in Kitsch oder Nostalgie verfällt, aber durch seine genaue Charakter- und Milieuschilderung eine verflossene Epoche skizziert. Er versetzt uns in ein England der Klassengesellschaft zurück, in dem eine konservative Grundordnung herrscht, die aber auch Platz für die Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft von Fremden hat. Sie bauen den Helden in seinem Leid auf und sind Künstler, Angestellte oder sonstige Normalbürger. In Williams’ Mittelschichtfamilie herrschen dagegen noch geradezu viktorianisch gehemmte Umgangsformen. Außer Höflichkeiten wird nichts von Belang ausgetauscht, weswegen Williams seinem erwachsenen Sohn Michael nicht die Wahrheit über seine Krankheit erzählen kann.

Aufgrund seiner freundschaftlichen Beziehung zu Margaret sorgt er für kleinbürgerlichen Nachbarschaftstratsch: Man wittert eine Romanze des älteren Mannes mit der jungen Frau. Williams’ garstige Schwiegertochter – der einzige Schwachpunkt in der Figurenzeichnung des Films – hat Angst um ihr Erbe. Williams wiederum erkennt durch seine Gespräche mit Margaret, dass sein Leben in einer eintönigen Routine an ihm vorbeigerauscht ist und er sich nun zum ersten Mal in seinem Leben einen Regelverstoß gönnt. „Ich wollte immer einfach nur ein Gentleman sein“, bekennt er. Margaret gesteht Williams dagegen, dass sie ihn im Geheimen stets „Zombie“ genannt habe. Der Ausdruck ist in den 1950er-Jahren noch nicht landläufig und wird mit einer ägyptischen Mumie gleichgesetzt. Im Unterschied zur Mumie könne er sich wenigstens bewegen, findet Williams und lebt in der Gesellschaft der lebenslustigen jungen Frau auf. An seinem fest im Kalender verankerten wöchentlichen Kinotag schaut er mit ihr „Ich war eine männliche Kriegsbraut“ mit Cary Grant, was die Figuren zusätzlich in ihrer Zeit verankert.

Etwas Gutes vollenden

Dass er schließlich die Kraft findet, in seinem Leben doch noch etwas Gutes zu vollenden – die Bauumsetzung des in den Aktenbergen verschwundenen Spielplatzvorhabens –, mag idealistisch erscheinen. Doch der Film ist klug genug, Williams’ Aufbäumen als individuelle Entscheidung und nicht als gesellschaftlichen Aufbruch per se darzustellen. Die Behörde versinkt nach Williams’ Ära wieder im gewohnten Trott, und man kann davon ausgehen, dass weitere Biographien von pflichtbewussten, aber kaum bemerkbaren Beamten ihren Lauf nehmen.

Es erfreut allerdings in mehrfacher Hinsicht, dass Williams’ unauffälliges Leben eine Betrachtung wert ist. Zum einen hat es solche Lebensentwürfe hunderttausendfach gegeben, aber selten auf der Leinwand. Zum anderen können wir dabei einen ganzen Film lang dem großartigen Bill Nighy bei seinem Spiel zuschauen und uns freuen, wie er selbst einer solch scheinbar faden Figur noch Humor, Wehmut und Kraft verleihen kann. Dass seine ganz in Nuancen gehaltene Leistung von der amerikanischen „Oscar“-Academy nur mit einer Nominierung und nicht mit dem Goldjungen selbst gewürdigt wurde, mag man allerdings bedauern.

Erschienen auf filmdienst.deLiving - Einmal wirklich lebenVon: Kira Taszman (24.4.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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