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Filmkritik
Schon der Prolog macht ratlos. Eine alte Frau mit maskulinen Gesichtszügen steckt in einem futuristischen Outfit und schaut bedeutungsschwer in die Kamera, während sie einen erratischen Monolog spricht. Was man zunächst als Hang zur mutigen Irritation interpretieren könnte, entpuppt sich jedoch als erzählerisches Unvermögen, das mit einer Aneinanderreihung vermeintlich innovativer Bildideen kompensiert werden soll.
Emerica & The Something
Es dauert eine Weile, bis man in dem konfusen Bewusstseinsrausch zwischen italienischem Giallo, Science-Fiction, Freakshow und David Lynch eine Handlung erkennt. Eine Frau namens Emerica (Agnieszka Podsiadlik) steckt in einer Ehe mit einem gewalttätigen Gangster (Stipe Erceg) fest, der sich auf seine Bauchmuskeln das Lebensmotto „Testosteron“ tätowiert hat und dem Sex mit jungen Männern ebenfalls nicht abgeneigt ist. Er unterdrückt Emerica, wo er nur kann. Das gilt auch für ihre kleine Tochter, die herrisch ihre Aufmerksamkeitseinheiten einfordert.
Dazu gesellt sich ohne weitere Erklärungen ein Wesen namens The Something (Lena Lauzemis), eine non-binäre Person aus einem scheinbar fremden Universum, die Emerica die Augen für andere Paar-Kombinationen öffnet. Sie sagt den ganzen Film über nicht viel, ist mit ihren wachen Augen aber immer präsent und beobachtet die Umwelt, in der sie sich erst zurechtfinden muss. Außerdem verfügt sie über Fähigkeiten, die sie anderen gegenüber überlegen macht.
Mit überbordendem Stilwillen
Von der deutsch-polnischen Grenzregion aus reisen sie und Emerica auf eine Insel in Dänemark, um dort neu anzufangen. Dabei geraten sie in bedrohliche wie berührende Situationen und schärfen ihr Bewusstsein für Lüge und Unrecht. Was zunächst wie eine Befreiung aussieht, entpuppt sich allmählich aber als eine anti-patriarchale Frauensekte, die ihre Mitglieder zu kontrollieren versucht.
Ein polnischer „New Wave“-Song von 1984 gibt dem über weite Strecken unbeholfen-wirren Film von Kuba Czekaj den Titel, wobei die elektronisch-chorische Musikuntermalung durchaus überzeugt. Der überbordende Stilwillen ermüdet allerdings schnell, denn ohne Geschichte und glaubwürdige Figuren verfestigt sich der Eindruck einer selbstbezogenen Effektorgie, die primär die eigenen Fertigkeiten zur Schau stellt. Da wechseln die Bildformate unmotiviert, die Bilder zerfließen, werden überblendet oder sind in grelles Rot eingetaucht, das auch exzessiv in Details wie Lippen oder Blutspritzer auftaucht. Die Montage setzt gänzlich auf Assoziationen, Zeitlupe und psychedelische Stimmungen, die aber nicht mit den von Gewalt angepeitschten Handlungsfetzen korrespondieren und keinen Sog erzeugen.
Ein rauschhafter Videoclip
„Lipstick on the Glass“ jongliert mit tradierten Kinogenres wie dem Gangster- und Liebesfilm, deren Elemente miteinander verschmelzen sollen. Als Zuschauerin wird man lange im Ungewissen gehalten, ohne dass sich die vielen Fragen an den Plot jemals auflösen. In den 1980er-Jahren hätte diese bemühte Fingerübung als rauschhafter Videoclip vielleicht funktioniert. Inzwischen aber dient das visuell hochgerüstete Arsenal weder als Hommage auf den unterkühlten Zeitgeist noch als feministische Utopie über die Erlösung der Protagonistin aus ihren quälenden Zwängen. Was sich auf der Leinwand entfaltet, ist vielmehr der kleinste gemeinsame Nenner einer skurrilen Emanzipationsgeschichte – ohne Charme, dramaturgisch einfallslos, übervoll mit bleiernen Dialogen und letztlich kaum an der queeren Botschaft interessiert.