- RegieJan Gassmann
- GenreDrama
- Cast
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Filmkritik
Es gibt „Rabenmütter“, die sich nicht um ihre Kinder kümmern. Es gibt Frauen, die nach der Geburt den Babyblues bekommen und in ein hormonell bedingtes Stimmungstief abgleiten. Und es gibt die Titelheldin von „Les paradis de Diane“, eine junge, lebenslustige Musikerin oder vielleicht auch Musiklehrerin, so genau erfährt man das nicht. Im Film sagt Diane: „Ich bin keine Mutter.“ Obwohl sie in der unmittelbar dem Titel folgenden Szene ein Kind gebiert.
Ein schwindelerregender Abgrund
Dem Titel haben Carmen Jaquier und Jan Gassmann eine Sexszene vorangestellt, zwischen der hochschwangeren Diane und ihrem Lebenspartner Martin. So unvermittelt wird man selten in die Intimität eines Paares hineingeworfen, in seine Sexualität und vertraute Zärtlichkeit. Ebenso selten hat man aber auch einen derart abrupten Schnitt wie aus diesem Liebesakt in einen fortgeschrittenen Gebärvorgang erlebt. Während der Liebesszene schmeichelt ein smoother Song den Ohren, während die Geburtsszene in naturalistischer Nüchternheit dröhnt. Diane krampft, stöhnt, schreit. Martin steht daneben. Er versichert ihr, dass er stolz auf sie sei. In der von Marcel Vaid komponierten Musik klingen frostig-verstörende Töne und Disharmonien an.
In dem Moment nach der Geburt, in dem man oft eine glücklich erschöpfte Frau mit ihrem frisch geborenen Kind auf dem Bauch oder in den Armen und einen strahlenden Vater daneben gesehen hat, wird die Leinwand schwarz. Dieser Augenblick absoluter Dunkelheit ist eine Art Leerstelle. Ein sich kurz öffnendes, schwindelerregende Abgründe erahnen lassendes Loch oder eine für einen Sekundenbruchteil klaffende Spalte, in die Diane fällt. Der Rest des Films dann handelt davon, wie Diane aus dieser düsteren Bodenlosigkeit wieder herausfindet, zu sich und in das Leben, in ihr eigenes Leben.
Mit leiser, brüchiger Stimme
Der Film zeigt: Diane, die sich ins Badezimmer zurückzieht und einschließt, während sich ihre Eltern und Martin kurz nach der Geburt freudestrahlend über das Kindsbettchen beugen. Dianes abwesenden Blick, als Martin sich für die Nacht von ihr verabschiedet. Diane im Morgenrock vor dem defekten Getränke- und Essensautomat im Krankenhaus. Sie kehrt ins Zimmer zurück, beobachtet und hört durch Vorhänge hindurch, wie die Wöchnerin nebenan mit ihrem weinenden Kind spricht und es hochnimmt. Die scheint zu ahnen oder vielleicht sogar zu erwägen, dass ein solches Verhalten auch für sie angemessen wäre. Mit leiser, brüchiger Stimme stimmt sie ein Kinderlied an, das sie fortan durch den Film begleitet.
Ihr Kind anzufassen, es hochzunehmen und tröstend zu wiegen, gelingt ihr aber nicht. Stattdessen sieht man sie kurz darauf durch den nachtdunklen Garten des Krankenhauses davongehen. Ein Bus (ent-)führt sie in die Fremde. Weg vom Kind. Weg von Martin, ihrem bisherigen Leben und dem, was ihr bislang Selbstvertrauen gab. Weg in ein anderes Land, in einen anderen Sprachraum, eine andere Stadt, die nicht am Rande der Voralpen, sondern am Mittelmeer liegt: Benidorm, ein spanischer Badeort an der Costa Blanca.
Bis an die Strandpromenade türmen sich da die Hochhäuser. Die Straßen der Altstadt summen vor Touristen. Restaurants, Bars, Discos, Spiel-, Tanz- und Erotiklokale laden rund um die Uhr zu Genuss, Party, Vergnügen und beglückendem Vergessen ein. Diane besorgt sich Medikamente, checkt in einem Hotel ein. Als tags darauf im Hotelzimmer das Telefon klingelt, packt sie ihre wenigen Habseligkeiten und taucht unter. Portemonnaie, Kreditkarte und Pass vergräbt sie in einem der Rabatte. Das Handy schaltet sie aus.
Sie will nicht gefunden, nicht aufgehalten werden auf ihrem Weg, von dem sie nicht mehr weiß, als dass er sie wegführt von ihrem Neugeborenen. Nicht einmal einen Namen hatte sie für ihr Kind überlegt. Nun aber erinnern sie ihre vom Milcheinschuss angeschwollenen Brüste unangenehm schmerzend an das, was sie vielleicht ungeschehen machen oder zumindest vergessen möchte.
Als Erstes lernt Diane ihren eigenen Körper wieder zu berühren, um die Milch loszuwerden. Später dann beginnt sie, sich auch wieder auf Männer einzulassen.
Nah am Gesicht und am Körper
Jaquier und Gassmann erzählen bruchstückhaft, in zeitlich nicht genau bestimmbaren Sprüngen und Ellipsen. Die Kamera, agil geführt von Thomas Szczepanski, ist oft nahe am Gesicht und am Körper der Protagonistin. Die deutsch-belgische Schauspielerin Dorothée de Koon spielt Diane auch in Szenen, in denen sie sich entgleitet und abwesend erscheint, sehr körperlich präsent und mit einer stupenden Natürlichkeit. Diese Frau, die ihre Mutterschaft nicht antreten will oder kann und zwischendurch auch schon mal wütend auf Autos einschlägt, verströmt ebenso eine betörend sanfte Weiblichkeit.
Dass man sie, die scheinbar skrupel- und gewissenlos ihr Kind, ihren Partner, ihre Eltern und ihren ganzen Freundeskreis im Stich gelassen hat, nicht einfach als Versagerin, Monster oder gar als Verbrecherin wahrnimmt, sondern auch als sensible und verletzliche Frau mit Herz, ist die große Leistung von Jaquier und Gassmann. Die beiden sind ein Paar, leben zusammen und haben einen gemeinsamen Sohn. Ihre Filme haben sie bislang je für sich realisiert. Auch dort ging es schon intensiv um körperliches Begehren, Sexualität und die zerbrechlich-fluiden Strukturen von Beziehungen.
In „Les paradis de Diane“ fokussieren sie nun weitgehend auf das Erleben und die Entwicklung von Diane. Die Geschichte von Martin – seine Liebesnot, seine Situation als alleinstehender Vater mit einem Neugeborenem – wird im Film nur insoweit aufgegriffen, als sie auch für Diane von Belang ist. Dass Martin sich zu arrangieren versteht, lässt ihn sympathisch, aber nicht heldenhaft erscheinen
In der Person von Rose steht Diane dann eine Figur zur Seite, die so etwas wie ihr Alter Ego ist. Diane begegnet der auf dem Gehsteig zusammengebrochenen Frau, die mit zurückhaltender Fragilität von Aurore Clément beeindruckend gespielt wird, wenige Tage nach ihrer Ankunft in Benidrom. Sie begleitet die ältere Dame, die ihre Mutter oder sogar Großmutter sein könnte, nach Hause und trägt ihr die Einkaufstüten bis vor die Wohnungstür. Dass Diane bei Rose Unterschlupf findet, verdankt sie ihrer Not und Dreistigkeit und vielleicht auch der Tatsache, dass Rose instinktiv ahnt, in Diane eine Seelenverwandte zu finden, die sie als Stütze braucht.
Vom Anfang und vom Ende her
Als Diane einmal alleine zuhause ist, entdeckt sie in Roses Kommode einen verschlossenen Briefumschlag, auf dem ein Frauenname steht. Beide kommen sich schrittweise näher. Rose lässt Diane Raum, Diane hilft im Haushalt und kümmert sich, soweit nötig, um Rose. Manchmal unternehmen die beiden etwas zusammen. Sie verstehen sich ohne viele Worte. Eher selten führen sie ernsthafte Gespräche. Das Wenige, was Rose dabei sagt, löst in Diane etwas aus.
Die Zusammenführung von Diane und Rose, deren Biografien Parallelen aufweisen, ermöglicht es den Regisseuren, die Geschichte einer Frau, die ohne das von ihr geborene Kind durchs Leben geht, vom Anfang und vom Ende her zu erzählen. „Les paradis de Diane“ ist dabei flackernd erzählt. Ein großer Teil spielt in der Nacht oder in der Dämmerung. Einzelne Szenen flammen auf, brechen wieder ab. Sie beleuchten einen Moment, tippen etwas an, greifen nach etwas, das fortan mitschwingt, aber nicht weiter thematisiert wird. Einmal ruft Diane aus einer Telefonzelle Martin an, bricht das Telefonat aber wieder ab, bevor daraus ein richtiges Gespräch entsteht. Einmal reist Diane zurück nach Zürich. Sie geistert durch die Stadt, beobachtet Martin, ihre Eltern und das Kind aus der Ferne, reist aber wieder ab, bevor jemand sie entdeckt. Rose aber findet sie nach ihrer Ankunft in Benidorm nicht wieder vor. Wochen oder vielleicht auch Monate später verrät Martin, als er Diane schließlich doch in Benidorm besucht, den Namen ihrer Tochter. Für den Fall, dass Diane in ferner Zukunft vielleicht doch …
Eine Frau, die keine Mutter ist
„Les paradis de Diane“ lässt alles offen, was Diane und ihre Tochter betrifft. Die Hoffnung aber, die Jaquier und Gassmann am Ende ihres Films leise anklingen lassen, entsteht dadurch, dass sie eine Liebe, auch wenn sie im Alltag nicht (mit-)geteilt und gelebt werden kann, als Gefühl füreinander nicht sterben lassen. Das große Geschenk dieses Films ist seine (Vor-)Urteilslosigkeit; man könnte auch Menschlichkeit dazu sagen. Diane ist eine Frau, die keine Mutter ist. Und das ist okay.