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Filmkritik
Joe, ein 17-jähriger Belgier mit arabischen Wurzeln, steht kurz vor seiner Entlassung aus einer Jugendhaftanstalt, als er das mit einer Flucht ans Meer einmal mehr alles aufs Spiel setzt. Meist gelingt es ihm, die Strategien umzusetzen, die die Sozialarbeiterin Sophie und ihr Kollege Ilyas ihm eindringlich nahelegen, mit denen er seine Wut kanalisiert. Die richtet sich gegen die überforderte Mutter, die ihren Sohn schon lange nicht mehr versteht und innerlich aufgegeben hat. Aber auch gegen die argwöhnische Gesellschaft, die ständigen Polizeikontrollen, die abschätzigen Blicke, den alltäglichen, institutionalisierten Rassismus.
Den Frust in Kunst verwandeln
Statt Autos anzuzünden, rappt Joe dann im Workshop mit seinen Mitinsassen über seine Gefühle. Eindringlich und mitreißend verwandelt er seinen Frust in Kunst. Manchmal aber bricht es aus ihm heraus. Dann haut er ab, einfach weg, ans Meer. Die Perspektive des (Re-)Sozialisierungsprogramms auf eine Ausbildung und eine eigene Wohnung gibt ihm keinen Halt. Jenseits der Gefängnismauern warten nur Einsamkeit und Ablehnung; drinnen hat er bei allem Streit und allen Reibereien so etwas wie eine Ersatzfamilie. Trotzdem ist Joe bereit, den Weg zu gehen, den Sophie und Ilyas ihm ebnen wollen. Doch dann wirbelt ein neuer Häftling alles durcheinander.
Der wortkarge William mit dem stechenden Blick, dessen Körper mit kunstvollen Tattoos übersäht ist, und Joe fühlen sich auf Anhieb zueinander hingezogen. Ob Joe schon klar war, dass er schwul ist, oder ob er es erst jetzt durch William erfährt? Das spielt keine Rolle. Denn der Regisseur Zeno Graton inszeniert die Liebe der beiden nicht als Erwachen. Es gibt keine inneren Widerstände zu überwinden. Nur äußere. Statt harter Sexszenen, in denen sich Unterdrücktes oder Aufgestautes entlädt, zeigt Graton, wie sich eine zärtliche, vor den anderen geheim gehaltene Liebe entfaltet, die dann aber jäh zu zerbrechen droht, weil Joe verschweigt, dass er bald entlassen wird.
Ein Sehnsuchtsraum aus zwei Menschen
Graton packt derart viele Themen von politischer und gesellschaftlicher Relevanz in seinen Debütfilm, dass daraus leicht ein bedeutungsschweres Sozialdrama voller gewichtiger Statements hätte werden können. Doch „Le paradis“ greift diese Themen zwar auf und nimmt sie ernst, ordnet sich ihnen aber nicht unter. Die Handlung wird vielmehr aufs Nötigste komprimiert, wodurch ein Raum für die Figuren und ihre Beziehungen entsteht, den Khalil Ben Gharbia und Julien De Saint Jean, aber auch die anderen Darsteller mit unverfälschter Ausdruckskraft füllen. Innerhalb dieses Raums, der auch ein Sehnsuchtsraum ist, entfaltet die Musik von Bachar Mar-Khalifé eine eindringliche, fast magische Wirkung, ebenso wie die Fotografien in den selbstgebastelten Laternae Magicae, Williams Tuschezeichnungen und Tätowierungen oder Joes fulminanter Sprechgesang. Auch wenn dies alles gewisse Längen nicht kaschieren kann, die durch die reduzierte Dramaturgie entstehen.
In einer liebevoll zurückgenommenen, gewalt- und jugendfreien Hommage an Jean Genets Film „Un chant d’amour“ (1950) hören Joe und William gemeinsam Musik, wenn Joe das Radio, das er William nach dessen Einzug gestohlen hat, an die Wand hält, die ihre beiden Zellen voneinander trennt. Gemeinsam kreieren sie ihren eigenen Schutzraum, in dem sie zugleich gefangen bleiben. Weil sie für ein Leben in Freiheit noch nicht bereit sind? Oder weil die Gesellschaft das verhindert? „Le paradis“ wirft diese Frage nur auf; die Diskussion darüber muss aber woanders geführt werden. Graton genügt es, diesen Schutzraum poetisch auszugestalten, mit der lyrischen Kraft der Filmmontage, melancholischen Texten, zauberischen Bildern und hypnotischen Klängen.