- RegieAlice Agneskirchner
- ProduktionsländerDeutschland
- Dauer155 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
- AltersfreigabeFSK 12
Vorstellungen
Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
Der Beginn zeigt Erika und Ulrich Gregor, die inzwischen auf die Neunzig zugehen, in einer typischen Konstellation: Erika Gregor gibt Anweisungen, ihr Mann macht alles so, wie sie es möchte, und beide sind damit glücklich. Die Gregors sind ein Paar, das seit mehr als 60 Jahren verheiratet ist; eine symbiotische Einheit. Beinahe in jeder Sekunde des Films ist zu spüren, wie gut sie aufeinander eingespielt sind und wie viel sie miteinander gemeinsam haben. Das ist vor allem die Liebe zum Kino.
Für den Film „Komm mit mir in das Cinema“ von Alice Agneskirchner reisen sie durch ihrer beider Leben und durch die Filme, die sie beeinflusst haben. Mehr als 100.000 Werke haben sie insgesamt gesehen. Oft waren und sind sie dabei unterschiedlicher Meinung, und genau das brachte sie 1957 zusammen. Nach einer Aufführung von „Menschen am Sonntag“ im Filmclub der FU Berlin äußerte sich die 23-jährige Studentin Erika, frisch aus Göttingen nach Berlin gekommen, kritisch über den Film. „Sie brachte Zündpulver ins Audimax“, sagt Ulrich Gregor. Die Einladung zum Bier hinterher schlug sie aus, Als junge Frau mit unbekannten Männern ausgehen? Das war in den 1950er-Jahren unvorstellbar. Ulrich Gregor bat beim Abschied: „Bitte, bitte wiederkommen!“ Er war damals gerade aus Paris zurückgekehrt, wo er an der Sorbonne Romanistik studiert hatte. Eigentlich war er nur wegen der Kinos und der Filme in Paris, denn dort gab es eine lebendige Filmlandschaft – ganz im Gegensatz zum Nachkriegsdeutschland, wo der Heimatfilm regierte.
Auf der Suche nach Herausforderungen
Die junge Frau kam wieder, und sie wurden ein Paar. Sie wollten beide etwas anderes als Heile-Welt-Schmonzetten, sie suchten den Diskurs, die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit und mit ihrer Elterngeneration, die künstlerische Herausforderung, das Experiment. Ihre erste gemeinsame Nacht verbrachten sie am Schneidetisch, wo sie die Dialoge von „Bestie Mensch“ übersetzten. Auf seiner Vespa brummten sie durch Berlin, balancierten dabei sperrige Filmkopien und klingelten schon mal bei der sowjetischen Botschaft mit der Frage, ob sie „Ein Menschenschicksal“ von Sergej Bondartschuk an der FU zeigen dürften. Bald darauf teilte eine Mauer die Stadt, aber die Gregors, seit 1960 verheiratet waren, ließen sich nur wenig von äußeren Umständen beeindrucken. Sie wollten Altes und Neues, Ost und West im Film verbinden, sie wollten Kunst und Wirklichkeit zeigen und immer auch darüber diskutieren.
Das Oberhausener Manifest brachte frischen Wind in die deutsche Filmszene, und die Gregors zogen mit. Sie gründeten den Verein „Freunde der Deutschen Kinemathek“ und präsentierten Filmgeschichte für alle. 1970 eröffneten sie ihr eigenes Kino, das „Arsenal“, mitten in West-Berlin, in einer unscheinbaren Seitenstraße. Es wurde zum Prototyp der Kommunalen Kinos. 1971 begann die Zusammenarbeit mit der Berlinale. Das „Internationale Forum des Jungen Films“ avancierte zum cineastischen Aushängeschild des Festivals und bot Filmkunst, Experimente und immer wieder Neuentdeckungen. 30 Jahre lang leiteten Erika und Ulrich Gregor die Sektion, die nicht nur die Berlinale nachhaltig veränderte, sondern auch Vorbild für viele andere Festivals wurde.
Kulturgeschichte des Kinos und der Filmkunst
In einfallsreich gestalteten Bildern mit vielen Filmausschnitten aus 100 Jahren Kinogeschichte, mit Originalaufnahmen, Fotos und Interviewsequenzen mit den Gregors sowie ihren Wegbegleitern lässt der Film zweieinhalb kurzweilige Stunden lang die Biografien der beiden lebendig werden, die untrennbar mit dem deutschen und internationalen Filmschaffen verbunden sind. Aus der Konstellation „zwei Menschen in ihrer Zeit“ entwickelt Alice Agneskirchner eine Kulturgeschichte des Kinos und der Filmkunst, die sehr viel mit den Intentionen der Gregors zu tun hat: den Film als Teil eines großen Ganzen zu begreifen, als künstlerischen Ausdruck von Entwicklungen, ihn nicht isoliert zu betrachten, sondern eingebettet in Zeiten und Strömungen, immer wieder neu und immer wieder anders – Film als Bindemittel zwischen Kunstschaffenden und dem Publikum aus aller Welt.
Immer klarer tritt dabei die Beziehung der beiden Gregors hervor, ebenso ihre jeweiligen Persönlichkeiten: zwei sehr kluge, sehr kultivierte und hoch gebildete Menschen. Der eher zurückhaltende, rationale Ulrich Gregor ist ein Analytiker mit enormem Fachwissen, der mal eben französische Filmdialoge simultan ins Deutsche übersetzt. Er passt perfekt zu Erika Gregor, die deutlich mutiger und tatkräftiger zu sein scheint, eine selbstbewusste Frau mit vielen Talenten: eloquent, aber eher kämpferisch, warmherzig und sehr feinfühlig, Das kommt dem Umgang mit Menschen zugute, auch dem mit Filmschaffenden. Viele kommen im Film zu Wort, darunter Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Jim Jarmusch, Jutta Brückner, Margarethe von Trotta, Aki Kaurismäki und István Szabó, der auch heute noch mit den Gregors freundschaftlich verbunden ist.
Weitermachen. Filme schauen.
Alice Agneskirchner hat für ihre beiden Protagonisten ein wunderbar spielerisches, dramaturgisch recht verzwicktes Konzept mit ein paar hübschen Effekten entwickelt. Die Gregors dürfen in die Handlung eingreifen, sie werden aber auch mit Überraschungen in Form von Filmausschnitten und Begegnungen konfrontiert. Kleine, liebenswerte Details peppen den Film auf und schaffen eine heitere Atmosphäre. Gelegentlich finden sich die beiden an früheren Schauplätzen und Wirkungsstätten wieder, in die sie mit Stopptricks hineingestellt wurden.
Deutlich zu erkennen ist, wie viel Spaß den beiden Protagonisten der Filmdreh gemacht hat. Treffen werden arrangiert, oder es laufen Filmclips ihrer Entdeckungen, etwa die Filme der Marx Brothers, die in Deutschland komplett unbekannt waren. Oft wird es vergnüglich, doch zwischendurch geht es naturgemäß auch um Verluste, um Krisen und um persönliche Entwicklungen: die Auseinandersetzung mit dem Krieg und dem Holocaust; Claude Lanzmann und sein Film „Shoah“ werden zur wichtigen Station. Nicht alle waren auf ihrer Seite. Ulrich und Erika Gregor waren die aufbegehrenden Kinder einer schweigenden Generation, von einigen 1968ern wurden sie als bürgerliche Reaktionäre beschimpft und attackiert.
„Es muss eine Utopie geben“
Doch die Gregors ließen sich nicht beirren und machten weiter, schauten Filme und zogen nebenbei zwei Töchter groß. „Es muss eine Utopie geben“, sagt Erika Gregor. Das Paar blieb offen für Neues und für aktuelle Strömungen. Rosa von Praunheims „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Gesellschaft, in der er lebt“ hatte seine Weltpremiere beim Forum und wurde zur Initialzündung für die Schwulenbewegung, Helke Sander und „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers“ bildeten für viele Frauen die Basis für ein neues, feministisches Kino.
Immer wieder gibt es Momente der gemeinsamen Erinnerung, meistens über Filme. Viele hübsche Anekdoten gehören dazu, etwa die über ihre Mini-Hochzeit im Mai 1960 mit Sekt und Toast Hawaii für die beiden Trauzeugen und das junge Paar, bevor es mittags nach Cannes zum Festival ging.
Alice Agneskirchner setzt dem Paar ein liebevolles Denkmal. Sie zeigt die Gregors als perfektes Team. Am Ende ist es unmöglich zu sagen, welche Liebe die größere ist: die zueinander oder die zum Film.