- RegieYu Irie
- Dauer131 Minuten
- GenreMystery
- Cast
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Filmkritik
„Nemesis“ ist nicht der erste Film, den Thomas Imbach aus dem Fenster des Ateliers drehte. Schon in der Langzeitstudie „Day Is Done“ (2011) dokumentierte er mit dem Blick aus dem Fenster die Veränderung der davorliegenden Stadtlandschaft; darunter auch den Bau des direkt hinter der breiten Ein- und Ausfahrtsschneise des Hauptbahnhofs stehenden 126 Meter hohen „Prime Tower“. Begleitet wurde das Geschehen von Aufzeichnungen seines Anrufbeantworters: Nachrichten von Familienmitgliedern, Freunden und Menschen, die mit Imbach an Filmen arbeiten.
Er habe damals gedacht, dass Aus-dem-Fenster-Filme nun vorbei seien. Doch als Imbach 2013 erfuhr, dass der vor seinem Haus liegende alte Zürcher Güterbahnhof nach endlosem politischen Seilziehen doch abgerissen werden und einem modernen Justiz- und Polizeizentrums weichen soll, packte er die Kamera wieder aus.
Der „langsame Tod seines langjährigen Nachbarn“ habe ihm das Herz gebrochen. In nicht allzuferner Zeit werde man diesen Abbruch als „architektonischen Vandalismus“ beklagen. Der im Titel von „Nemesis“ anklingende Zorn ist denn auch eine Spur weniger intim und weniger leichtfüßig als in „Day Is Done“. Doch die radikale Veränderung der unmittelbaren Umgebung zwang Imbach, über das Vergehen der Zeit nachzudenken. Über die Vergänglichkeit allen irdischen Seins. Aber auch über den Stellenwert, welcher der Erinnerung im Leben jedes Einzelnen und in Gestalt eines kollektiven Gedächtnisses zukommt. Imbachs essayistischer Kommentar wird von Milan Peschel gelesen, der für Imbach in „Lenz“, „Mary – Königin von Schottland“ und „My Brother, My Love“ als Schauspieler vor der Kamera stand.
Ein scharfer Blick für Details
Ähnlich wie „Day Is Done“ und auch wie „Well Done“ (1994), der zwar nicht aus dem Fenster fotografiert wurde, aber im gleichen Industrieviertel hinter dem Bahnhof spielt, – ist „Nemesis“ von einem ausgesprochenem Stilwillen geprägt, einem meisterhaften Können und dem leisen Hang zum verschmitzten Witz. Imbach hat „Nemesis“ selber fotografiert. Er ist ein geduldiger Beobachter; seine Kamera bewegt sich agil. Er hat einen scharfen Blick für Details und eine Vorliebe für farbliche Kompositionen. Eine fast schon dreiste Neugierde lässt ihn selbst in intimen Momenten nicht wegschwenken; der Abspann lässt vermuten, dass das Pärchen, das sich weiderholt unter seinem Fenster trifft, wie auch die Teenager, die auf dem Abbruchgelände ein Fotoshooting durchführen, das Liebespaar, welches für ein Schäferstündchen auf einem Kran klettert, sowie alle anderen Personen um ihr Erscheinen im Film wissen.
„Nemesis“ ist auf 35mm fotografiert und gestochen scharf. Imbach arbeitet im Bild mit Zeitraffer und Dehnung, assoziativ-witzigen Reihungen und Wiederholungen, die ausgetüftelte Tonspur von Peter Bräker unterstreicht das Geschehen. Die Art und Weise, wie „Nemesis“ Mensch und Maschine, Mensch und Architektur ins Verhältnis rückt, sowie einige zeitgeraffte Szenen, in denen Baumaschinen und Laster plötzlich wie ferngesteuerte Spielzeuge aussehen, erinnern unmittelbar an "Playtime" und „Mon Oncle“ von Jacques Tati.
„Nemesis“ setzt mit dem Einzug der Bagger ein. Wohin ist der kanadische Cello-Bauer verschwunden, der auf dem Gelände wohnte, fragt sich Imbach. An ihm ist er jahrelang fast jeden Tag vorbeigeradelt. Man hat sich gegrüßt und manchmal ein paar Sätze gewechselt. Viele waren es nie. Doch genug, um miteinander vertraut zu werden. Doch sobald es den alten Gebäuden an die Substanz geht, Presslufthammer dröhnen, Abrissmaschinen an Backsteinmauern nagen, riesige Greifzangen Dächer aufreißen, eiserne Stangen sich verbiegen und Scheiben laut bersten, ist der Nachbar verschwunden. Er habe bis zuletzt gewartet; nun sei zurück in seine Heimat gezogen, lebe unter einer Brücke und füttere Tauben, heißt es im Film.
Was bleibt, ist die Erinnerung
Der Cello-Bauer ist der erste einer Reihe von verschwundenen Menschen, an die sich Imbach im Laufe des Films erinnert. Dazu gehören der Großvater, der Vater, die Oma, die Mutter. Auch der Filmemacher Peter Liechti ist darunter, mit dem Imbach eine Weile ein Atelier teilte und der ihm wenigen Monate vor seinem Tod einen gefrorenen Hasen aufschwatzte. Die letzte Begegnung im Krankenhaus, zwischen Morphium-Rausch und luziden Momenten, ist ein Adieu unter Freunden, die zugleich lebenslang Konkurrenten waren. Deine Eintrittszahlen im Vergleich zu meinen, ein letztes Mal die Hände geben, ohne den früheren Druck. Was bleibt, ist die Erinnerung.
Er werde im nächsten Jahr nicht mehr über die Toten nachdenken, sondern über die Lebenden, nimmt sich Imbach am Silvester vor und beschließt zugleich, sich gegen das Vergessen-Werden zu wehren. Mehrere Silvesternächte mit ihren Feuerwerken bilden filmische Zäsuren. Gelegenheit, ein jeweils anderes Kapitel auf- und eine neue Tonart anzuschlagen, mit frischen Gedanken weiterzumachen.
Sieben Jahren hat Imbach gefilmt. Der Aufbau von „Nemesis“ folgt – bis auf die eine Sequenz, in der das soeben Abgerissene durch ein Rückwärtsspulen nochmals ersteht – der Chronologie der Ereignisse. Nach dem Abbruch sind das zwei Jahre der Planierung. Er habe gejubelt, sagt Imbach, als er eines Sonntagmorgens den ersten Fuchs auf dem Gelände entdeckt habe. Fuchs, Krähe und Elster geben sich in dem Film ebenfalls die Ehre. Sie sind analog zu den unzähligen Menschen Figuren in einem Tableau, das sich im stetem Wandel neu präsentiert; „Nemesis“ erinnert darin auch ein wenig an die Wimmelbilder von Pieter Bruegel, insbesondere im zweiten Teil, in dem auf dem brachliegenden Gelände ein Streetfood-Festival stattfindet sowie allerlei andere Aktivitäten; vor allem aber im dritten Teil, in dem die Brache zur Baustelle wird.
Eine filmische Zeitkapsel
Zuerst fahren Bagger und Laster auf. Später Kräne. Bretterzäune werden aufgebaut. Baugerüste. Die Baumaschinen sind fast ausschließlich gelb. Die Arbeiter tragen orange Sicherheitswesten und Helme, gelb, orange, selten weiß. Bei der Grundsteinlegung stöckelt eine Alphornbläserin übers Gelände, man versenkt eine kupferne Zeitkapsel, in der sich auch ein Backstein des abgerissenen Bahnhofs befinden soll. Gegen Ende des Films feiert man Richtfest; Imbach hat es nicht für nötig befunden, mit dem Abschluss von „Nemesis“ bis zur Eröffnung des Polizei- und Justizzentrums zu warten.
Irgendwann rät ihm seine Assistentin Lisa Gerig, sich statt um die Vergangenheit um die Zukunft zu kümmern. Um Häftlinge, die bald seine Nachbarn sein werden. Sie ist während der Entstehungszeit des Films in ein Gefängnis gefahren und hat Menschen befragt, die auf ihre Abschiebung warten. Deren Gedanken und Schicksale verpassen „Nemesis“ in Verbindung mit der eingangs erzählten Geschichte um den „Italienerkrawall“, bei dem es 1896 zwischen Zürichern und italienischen Einwanderern zu handgreiflichen Auseinandersetzungen kam, eine zusätzliche gesellschafts- und politkritische Ebene.
„Nemesis“ ist ein meisterhafter Film, sehr persönlich, aber genauso universell, weil durchgängig gesellschaftlich brennende Fragen aufgeworfen werden.