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Filmkritik
Der Kampf beginnt noch vor dem Morgengrauen und zieht sich bis spät in die Nacht hinein. Die Gegner der Mittvierzigerin Julie Roy (Laure Calamy) sind mannigfaltig: sich schließende Bus- und Zugtüren, vorbeifahrende Mitfahrgelegenheiten, versagende Kreditkarten. Aber auch Telefonate und gestresste Gegenüber. Der Arbeitsalltag als ein einziger Hindernisparcours.
Julie Roy lebt mit ihren beiden kleinen Kindern in einem Vorort von Paris. Seit der Trennung von ihrem Mann ist sie alleinerziehend. Ihr Arbeitsplatz aber, ein Luxushotel, liegt mitten in der Metropole. Das bedingt Tag für Tag lange An- und Rückfahrten. Die Kinder werden noch im Dunkeln bei einer alten Nachbarin untergebracht, die mault, weil ihr die Kleinen zu anstrengend werden und die Mutter es nie schafft, sie zur angekündigten Uhrzeit wieder abzuholen.
Ständig unter Strom
Im Hotel leitet Julie das Team der Zimmermädchen. Sie ist kompetent und hat den nötigen Überblick, um durch Improvisationen auch kurzfristig den Betrieb zu gewährleisten. Doch die Arbeit ist unbefriedigend und das Verhältnis zu ihrer Chefin gereizt. Die ausgebildete Marktforscherin Julie strebt deshalb eine neue Stelle an, ohne ihren aktuellen Verdienst gefährden zu wollen. Denn während die Bank sie mit Anrufen über ihren Kontostand traktiert, telefoniert Julie erfolglos ihrem Ex-Mann hinterher. Der ist mit den Alimenten im Rückstand und geht nie ans Handy.
Mit einem beispielhaften Tagesablauf steigt der französische Regisseur Éric Gravel in seinen Film „Julie – Eine Frau gibt nicht auf“ ein. Vom Schrillen des Weckers an steht die Protagonistin unter Strom. Ihr sich zum Rasen steigernder Herzschlag wird von den elektronischen Beats der Filmmusik von Irène Drésel aufgegriffen, die weiter anschwellen, wenn Julie einmal mehr zum Rennen gezwungen ist, um die Metro noch rechtzeitig zu erreichen.
Die Handlung des Films erstreckt sich über mehrere Tage, bei denen sich das erzählerische Muster vom haarscharfen Verpassen und Gerade-noch-Erwischen beständig wiederholt. Eine weitere Belastung lässt Julies Stresspegel noch mehr ansteigen. Denn Paris wird von Streiks gelähmt, über deren Gründe sich Julie keinen Kopf machen kann, da sie von den Auswirkungen maximal betroffen ist. Die tägliche Pendelei wird durch Notfahrpläne und mal kaum zu findende, mal überfüllte Ersatzbusse und -bahnen noch schlimmer; in Paris ist der Sprint durch die überfüllten Straßen oft noch die verlässlichste Form der Fortbewegung.
Sich nicht dem Schicksal fügen
Éric Gravel, sein Kameramann Victor Seguin, die Editorin Mathilde van de Moortel und die Filmmusik von Irène Drésel spalten Julies Hetzerei in eine treibende Bilderfolge auf, in der die nervenzerrende Situation einen immensen Spannungsfaktor erzeugt. Glaubhaft wird dieser permanente Energieausstoß durch die kongeniale Besetzung mit Laure Calamy, deren ohnehin hochenergetisches Spiel hier eine ideale Ausdrucksmöglichkeit findet. Sie vermag die emotionale Achterbahnfahrt ihrer Figur in allen Facetten sichtbar zu machen, denn Julie Roy befindet sich keineswegs auf einem geraden Kurs. Ihre Lage ist auch deshalb so schwierig, weil sie sich nicht in ihr Schicksal fügen will.
Gewisse Standards verteidigt Julie leidenschaftlich, etwa ihren Wohnort, der für die Arbeit so unpraktisch ist, aber als ländliche Gegend mehr für die Kinder taugt und zudem näher an der Bleibe ihres Ex-Manns ist. Oder auch, dass der Geburtstag ihres Sohnes mit großem Aufwand und so vielen Gästen gefeiert wird, wie dieser einladen will, obwohl das hohe Ausgaben und weitere organisatorische Albträume bedeutet.
Auch ihre eigenen Träume hat Julie noch nicht wegrationalisiert, für die sie sogar die Gefährdung ihrer bestehenden Arbeitsstelle riskiert. Dabei wird es unumgänglich, Kolleg:innen im Hotel um Deckung zu bitten, wenn sie für ein Vorstellungsgespräch freie Zeit braucht; dass diese ihrerseits ihre Jobs riskieren, nimmt Julie in Kauf. Wenn sie ihre Ziele nicht mit Charme und Freundlichkeit erreicht, erlebt man sie auch mal flehend, aufgewühlt oder drohend, ohne dass die in jeder Szene im Zentrum stehende Julie darüber Sympathiepunkte verspielen würde. Sie kann sich schlicht der fatalen Logik des kapitalistischen Systems nicht entziehen, für die Besserung des eigenen Lebens andere zur Seite drängen zu müssen.
Halsbrecherisches Tempo der Arbeitswelt
Als Sozialdrama ist „Julie – Eine Frau gibt nicht auf“ auch deshalb von außergewöhnlicher Dichte, weil sich der Film nicht in Lehrbuchphrasen, sondern allein durch seine formale Dringlichkeit entfaltet. An Julies Beispiel wird das halsbrecherische Tempo der modernen Arbeitswelt eindringlich vorgeführt: Fehler fallen sofort auf die Urheberin zurück, und Hilfsstrukturen erweisen sich als höchst brüchig. Dabei vergisst der Film auch nicht die Herausforderungen als alleinerziehende Mutter, die Julie neben ihrer Arbeitswelt weitere Scharmützel bescheren.
Wie sich in wenigen Tagen die Gemütsverfassung der Protagonistin immer mehr zur Verzweiflung steigert, setzt Gravel mit einer seltenen Einfühlsamkeit in Szene, auch wenn seine Vorbilder deutlich im Raum stehen. Insbesondere die Filme der Belgier Jean-Pierre und Luc Dardenne drängen sich als Referenz auf, namentlich „Rosetta“, dessen gleichsam an Schultern und Hinterkopf der Hauptfigur klebende Kameraführung auch in Gravels Inszenierung immer wieder aufgegriffen wird.
Doch selbst da, wo die Werke der belgischen Brüder sich dramaturgisch zuspitzten, gingen diese wesentlich getragener vor als ihr französischer Kollege nun bei „Julie“. Im Rhythmus steht Gravels Film dem adrenalingetriebenen Kino näher, wie es in den letzten Jahren auch außerhalb von Genre-Werken Fuß gefasst hat. Allerdings beschwören dessen prominente Vertreter in der Regel einen Ausnahmezustand herauf, ob bei einer Dauer-Verfolgungsjagd wie in „Mad Max: Fury Road“, einer Auswegsuche unter Zeitdruck wie in „Good Time“ oder einer beschleunigten Liebes-Thrillerstory wie „Victoria“ von Sebastian Schipper. Gravel hingegen erzählt von einer Normalität, die sich auf durchaus bittere Weise hochvertraut anfühlt, und bei der man allenfalls auf kurze Atempausen hoffen kann, nicht aber auf eine umfassende Katharsis oder ein Happy End. Für jemanden wie Julie Roy geht der Kampf jeden Morgen aufs Neue wieder los.