Cast
Vorstellungen
Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
Wohin fliehen, wenn die Welt zerfällt? In einer Zeit zu leben, in der nicht nur das eigene Selbst und der eigene Körper im Umbau begriffen sind, sondern auch das soziale Umfeld und das eigene Land, ist ein aufregender, aber kein unbedingt beneidenswerter Zustand. Maria (Marlene Burow) flieht aus dieser bleiernen Ungewissheit zunächst in die Welt der Literatur: Sie versenkt sich lieber in Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“, als in die Schule zu gehen. Weil im Wendesommer 1990 viele Lehrkräfte in den Westen abgehauen sind, fallen ohnehin die meisten Stunden aus.
Das milchige Licht eines heißen Tages streift schon in der ersten, trägen Kamerafahrt die Schultern der Lesenden. Dass der Wind derweil die Gardinen am Fenster wie Spitzenwäsche bewegt, weist fast schon etwas zu deutlich auf einen bevorstehenden erotischen Ausbruch hin. In diesem behaglich verranzten Dachboden voller improvisiertem Mobiliar und Spinnweben haust Maria mit ihrem bis zur Langweiligkeit netten Freund Johannes (Cedric Eich). Dessen Eltern, die herzliche Marianne (Silke Bodenbender) und der muffelige Siegfried (Florian Panzner), haben Maria wie eine eigene Tochter auf ihrem Hof aufgenommen. Dort leben außerdem der alte Knecht Alfred (Axel Werner) und die niemals lächelnde Großmutter Frieda (Christine Schorn). Marias eigene Mutter (Jördis Triebel) hingegen ist arbeitslos und versinkt im Dorf in eine Depression.
Hang zum fleischlichen Begehren
Die DDR ist bald Geschichte, die Felder wollen trotzdem bestellt sein. Die verbliebene Familie packt an, und auf einmal gibt es Sprühsahne. Maria schmeckt das Industrieprodukt nicht so gut wie die Sahne von Oma; auch dies ein diskreter Hinweis auf ihr sinnliches Verlangen nach dem Puren. In der Romanvorlage von Daniela Krien wird dieser Hang zum fleischlichen Begehr noch gesteigert: Obwohl Maria eigentlich Vegetarierin ist, genehmigt sie sich dennoch hin und wieder ein Stück vom Braten.
Weniger aus solchen plakativen Motiven als aus der schwer zu greifenden, latent bedrohlichen Atmosphäre zwischen Zerfall und Neuanfang präpariert Emily Atef die Notwendigkeit der eigentlichen Flucht Marias heraus: die in eine Affäre mit dem viel älteren, düsteren, aber charismatischen Bauern Henner (Felix Kramer). Der Funke springt bei einer einzigen, von Gefahr flankierten Berührung über, als Maria von Henners Rottweilern mit gefletschten Zähnen gestellt wird. Die Tiere stehen für die abweisende Aura ihres Besitzers, doch anders als in der Romanvorlage schlägt Henner im Film seine Hunde nicht. Er hat sie, wie seine eigenen Aggressionen, offenbar weitgehend im Griff, von dem einen oder anderen gerissenen Kalb einmal abgesehen.
Wie eine Diebin zum Honigtopf schlüpft Maria immer häufiger zum Bauern hinüber, belagert ihn fast, plündert sogar die Vorratskammer ihrer Gastgeber und trägt die Beute zu Henner, der ja Kraft braucht für das, was sie von ihm will. Marlene Burow spielt Marias Begehren noch mehr über ihren sachte witternden Atem als über ihren ruhigen Blick. Maria erschnüffelt sich den Männerkörper regelrecht. Bald aber dringt sie auch in Henners verwundete Seele ein, etwa in der gemeinsamen Lektüre von Georg Trakls todesverhangenen Gedichten.
Kammerspiel des Stofflichen
Die Montage von Anne Fabini lässt Ruhe und abrupte Ausbrüche unberechenbar aufeinanderfolgen, die Kamera von Armin Dierolf, die den Leibern kühl auf die Pelle rückt, macht aus einer Hand, die ein Baumwollkleid hochzieht, aus einer Faust, die fest einen Haarzopf um sich wickelt, oder aus einer Sandale, die ausgezogen wird, lauter kleine Kammerspiele des Stofflichen.
Weniger überzeugend sind die Gruppenszenen: Da wirkt mancher Dialog wie schon in der Romanvorlage wie mit einer Schablone angefertigt, vor allem, wenn die Männer in der Bauernstube die Umbrüche reflektieren: „Jetzt regiert das Geld, die D-Mark.“
Der Debütroman von Daniela Krien wurde nach seinem Erscheinen 2011 fast durchweg gefeiert. Wenngleich manche Kritikerinnen dessen Sprache aufgesetzt naiv und zu schmucklos fanden, ernteten gerade die erotischen Szenen viel Lob. Die zwölf Jahre, die seither vergangen sind, machen sich dennoch bemerkbar, wenn man die Zeitrechnung vor und nach „MeToo“ berücksichtigt und neu errungene Erkenntnisse und Sensibilitäten zum Thema Machtmissbrauch mit einkalkuliert.
Es lag auf der Hand, diesen Stoff Emily Atef anzuvertrauen, da sie mit ihren Filmen „Das Fremde in mir“ oder „3 Tage in Quiberon“ ihr Vermögen für unsentimental-eindringliche Frauenporträts bewiesen hat. Das Drehbuch schrieb sie zusammen mit der Romanautorin. Beide waren sich einig, dass Maria nicht mehr 16 Jahre alt sein sollte wie im Roman, sondern 18. Man habe die Gefahr vermeiden wollen, „dass der Film auf das sexuelle Verhältnis reduziert wird“, so Atef. Die Heraufsetzung von Marias Alter habe keine künstlerischen Einbußen bedeutet, so auch Krien.
Doch dieses Zugeständnis an den Zeitgeist fokussiert den Blick erst recht aufs Sexuelle. Die Verfilmung entschärft damit zwar einen entscheidenden Aspekt der Vorlage, treibt aber zugleich deren körperliche Energie voran. Ob zu jener oder zu irgendeiner Zeit das Verhältnis zwischen einem 40-jährigen Mann und einer heranwachsenden 16- oder 18-Jährigen gleichberechtigt war, ist oder sein kann, erfährt in „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ keine Einordnung. Emily Atef will offenkundig keinen Realismus. Durch die Heraufsetzung von Marias Alter kann sich der Film aber womöglich unbefangener ein ungleiches Außenseiter-Paar als ebenbürtig erträumen.
Eine ambivalente Nähe
Die Darstellung des ostdeutschen Landlebens kurz vor dem Ende der DDR wirkt manchmal etwas zu kulissenhaft und der Besuch des Onkels aus dem Westen zu vorhersehbar, wenn das aufdringliche „Grüß Gott“ in den kommunikativen Kosmos der Bauernfamilie platzt. Doch das zurückgenommene Spiel des heimlichen Paars, die behutsam auch das Gewalttätige abtastende Kamera und der immer wieder überrumpelnde Schnitt fassen die ambivalente Nähe der Liebenden in so harte wie zarte Bilder gemeinsam erlittener Unausweichlichkeit.