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Filmkritik
Es beginnt mit einem Bild, das perfekte Idylle wachrufen soll und doch zugleich abgründig wirken muss: Die „Trapp-Familie“ (fd 5340) singt „Guten Abend, gute Nacht“, ein spätromantisches Wiegenlied, das vom Hauch des Todes durchzogen ist. Es folgen prächtige atmosphärische Augenblicke: Die Kamera gleitet durch ein Kornfeld, wobei man niemanden sieht, aber eine Präsenz erahnt. Dann taucht ein zehnjähriger Junge auf und sehr unvermittelt ein zweiter, identischer. Offensichtlich Zwillingsbrüder. Sie nennen einander Lukas und Elias und spielen ein Spiel. Ein Sommernachmittag in der österreichischen Provinz, ein abseits gelegener, modernistischer Bungalow, der Wald und ein nahegelegener See, die Nachbarn sind fern. Als die Jungen zurück in das Haus kommen, wo sie mit ihrer Mutter wohnen, verliert der Film seinen paradiesischen Charakter. Nicht nur, dass sich die Mutter kühl und streng verhält und Lukas – vielleicht zur Strafe – komplett ignoriert; ihr Kopf ist nach einer Schönheitsoperation auch vollständig bandagiert, nur die Augen blicken durch Löcher des weißen Stoffes. Dieses Bild, das sogleich an Georges Franjus „Augen ohne Gesicht“ (1959) denken lässt, markiert früh das Genre dieses Films: Psychohorror, freilich in seiner europäischen, also zurückgenommenen Variante. Bildsprache und Erzählweise erinnern in ihrer kühlen Strenge und beklemmenden, keinen Exzess duldenden Präzision an Michael Haneke und Jessica Hausner. Und das nicht nur, weil der Film aus Österreich kommt und von Veronika Franz, der Lebensgefährtin und Co-Autorin von Ulrich Seidl sowie dessen Neffen Severin Fiala inszeniert wurde, was zur Entschlüsselung des Films allerdings wenig beiträgt. An Hanekes „Funny Games“ (fd 32 731) muss man hingegen häufig denken, denn „Ich seh, Ich seh“ bedient sich ebenfalls der Kinderspiele und ihrer Rituale. „Ich sehe was, was Du nicht siehst“, lautet hier der Name des Spiels, das gespielt wird, von den Hauptfiguren untereinander und mit den wenigen anderen Personen, die auftauchen, aber auch von den Filmemachern mit den Zuschauern. Und wie „Funny Games“ wird eine Geschichte vom Eindringen des Bösen ins vermeintlich sichere bürgerliche Leben, in eine Familie erzählt. Nur dass hier das Böse aus der Familie selbst kommt, der Eindringling immer schon drinnen und die Familie womöglich selbst das Böse ist. Denn schon kurz nach Beginn ist die Beklemmung und gegenseitige Repression zwischen den drei Hauptfiguren (der Vater ist aus unklaren Gründen abwesend) permanent präsent. Bald beginnt auch eine Höllenfahrt mit vorhersehbar schrecklichem Ausgang. Ihre äußerliche Ursache ist der Verband der Mutter. Weil ihr Gesicht nicht erkennbar ist und weil zudem ein markantes Muttermal entfernt wurde, zweifeln die Söhne zunehmend daran, ob es sich überhaupt um die Mutter handelt. Diese Zweifel lassen auch den Betrachter nicht unberührt. Es gibt Indizien dafür, dass die Kinder recht haben. Zudem ist die Inszenierung so geschickt, dass man nach einer Weile auch daran zweifelt, ob Lukas überhaupt existiert oder ob es sich beim Zwillingsbruder nicht vielmehr um eine Kinderfantasie handelt, um die imaginäre Wiederkehr eines Toten oder um eine Abspaltung einer schwer gestörten Kinderpsyche, in der Verdrängtes wiederkehrt. Dass die Inszenierung all dies so vage im Bereich des Möglichen hält, mögen manche diesem Spielfilmdebüt vorwerfen; es entspricht aber der Albtraumlogik dieses Werks und ist überdies die Voraussetzung, um den Suspense kunstvoll immer weiter zu steigern, flankiert von einem erschütternden „Body Horror“ in bester Cronenberg’scher Manier. „Ich seh, Ich seh“ ist kein Film für schwache Nerven. Wer die nötige Konstitution mitbringt, die Liebe zu philosophisch grundierten surrealen Vexierspielen oder neo-romantischen Identitätsdekonstruktionen, der findet hier einen der elegantesten und trotz kleiner Mängel besten europäischen Horrorfilme der letzten Jahre.